Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
mieden die höheren Lagen, aber auch die unteren Hänge mit ihren Stollen. Auf diese Weise drangen sie immer tiefer in das geheime Herz dieses Landes vor.
Sie durchquerten gerade eine lange Schlucht, nur ein paar Ellen breit und recht beschwerlich zu begehen wegen der vielen Felsblöcke, die die Witterung aus den bedrohlich zu beiden Seiten aufragenden Wänden gesprengt hatte, da öffnete sich plötzlich vor ihnen ein Tal, in dem ein kleiner Wasserfall mit klarstem Wasser rauschte und das rundum von hohen Bergen umgeben war. Nihal und Sennar hoben den Blick und entdeckten die Herkunft der Trümmer, die sie auf ihrem Weg gesehen hatten. Auf den Berggipfeln lagen Städte, doch die Gebäude waren nicht auf dem Fels errichtet, sondern bis in alle Einzelheiten aus dem Gestein selbst herausgeschlagen worden. In ihrer Blütezeit hatten die Gnomen also oben auf den Bergen gelebt, in Städten, die so unverwüstlich und ewig waren wie der Fels, aus denen sie bestanden. Nun jedoch war die Stille hörbar und erzählte in ihrer stummen Sprache von der Aufgabe dieser Ansiedlungen. Die Spuren der Zeit und der Vernachlässigung waren überall sichtbar. Die höheren Häuser waren verfallen oder zernagt vom Wind, der Fels bröckelig. Die Spitzpfeiler, die sie einst zierten, wirkten abgeschliffen, die Umrisse zerklüftet durch Regen und Stürme.
Sennar erinnerte sich, ganz ähnliche Häuser schon einmal gesehen zu haben, und zwar auf den Vanerien, auf dem Weg in die Untergetauchte Welt. Aber damals hatte er nicht verstanden, was es mit ihnen auf sich hatte. Nun jedoch wurde ihm klar, dass sie Nachbildungen eines grandiosen Modells waren, eines Werkes, das ein erfindungsreiches, fleißiges Volk in Jahrhunderten geschaffen hatte.
Nihal und Sennar konnten es kaum fassen. Ehrfürchtig schweigend wanderten sie zu einem der Gipfel hinauf und besichtigten die dortige Felsenstadt. Es war ein Gewirr von Häuschen, die sich dicht aneinanderdrängten, von engen, winkligen Gassen, von Türen, die sich überall öffneten. Alles war still, reglos. Nicht nur verlassen wirkte die Stadt, sondern mehr noch versteinert, so als sei sie von einem Zauberer mit einem finsteren Fluch belegt worden. Es begann zu regnen, ein trister, dichter Nieselregen, der bald schon den Staub der Gassen in Schlamm verwandelte, sodass es den Anschein hatte, als würden sich nun die Gebäude, bereits zerfressen von der Witterung, endgültig im Wasser auflösen. Doch Nihal und Sennar ließen sich nicht aufhalten und setzten ihre Besichtigung fort.
Spuren mutwilliger Zerstörung oder gar Blut und Leichen, wie in Seferdi, waren nicht zu erkennen. Alles wirkte aufgeräumt. Nicht menschlicher Vernichtungswille war es, der diesen Ort zur Einöde gemacht hatte, sondern das stille, unaufhörliche Wirken der Zeit. Überall erblickten sie Zeugnisse des Erfindungsreichtums der Erbauer dieser Stadt. In den Häusern gab es Wasserleitungen und raffinierte Heizungssysteme, bei denen über Zwischenräume in den Wänden die Wärme zu jedem gewünschten Ort geleitet werden konnte. Die heute versklavten Gnomen mussten früher einmal reich und glücklich gewesen sein.
Nihal und Sennar streiften durch die Straßen der Stadt, während der Regen, Vorbote eines zu frühen Herbstes, den allgegenwärtigen Stein um sie herum abwusch. Sie stiegen hinauf bis zum königlichen Palast, der leer und verlassen wirkte. Nur das sanfte Prasseln des Regens auf dem Stein durchbrach die unwirkliche Stille. Und ebenso unwirklich erschien ihnen, was sie wenig später an einer Straßenecke sahen. Mitten im Regen saß dort auf einem Sessel, hin- und herschaukelnd, eine alte Frau und summte ein Liedchen. Sie war sehr zierlich und trug ein grünes Leinenkleid, das fleckig und an vielen Stellen zerrissen war. Nihal trat auf sie zu, doch die Frau beachtete sie nicht und sang ungerührt weiter, während ihr langes gelbliches Haar nasser und nasser wurde. Sie wirkte wie eine alte zerzauste Puppe.
Nihal berührte sie sanft an der Schulter. Die Frau zuckte zusammen und blickte die Halbelfe aus leeren Augen an.
»Ist es schon Zeit zum Essen?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Dann ist der Markt heute aber früh zu Ende.« Sie sang weiter.
»Seid Ihr allein hier?«, fragte Sennar.
»Nein, nein. Ich bin nicht allein. Drinnen sind meine Angehörigen, meine Familie...« Nihal warf einen Blick in das Innere des Hauses, vor dem die Alte saß, und sah einen schäbigen dunklen Raum mit allerlei Gerumpel darin. Doch keine
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