Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
lebende Seele. »Die Jahreszeiten sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren...«, seufzte die Frau, »deswegen ist sicher auch der Markt so früh zu Ende.«
»Da ist niemand...«, flüsterte Nihal, an Sennar gewandt.
»Seid Ihr schon lange allein hier?«, fragte Sennar und blickte sie sanft an. »Ich bin nicht allein«, antwortete die Alte, weiter schaukelnd, »drinnen ist meine Familie... Ist es schon Zeit zum Essen?«, fragte sie dann noch einmal, während sie den Magier mit kindlichem Blick ansah.
Sennar schaute zu Boden und drehte sich dann zu Nihal um. »Haben wir noch genügend Vorräte?«
Nihal sah in ihrem Beutel nach.
»Die Kinder sind heute ganz leise«, fuhr die Alte fort. »Sonst machen sie solch einen Lärm, dass ich mich gar nicht ausruhen kann... Aber was soll man machen? Sie sind noch klein und sollen sich des Lebens freuen. Seid ihr Fremde?«, fragte sie Sennar. »Ja«, antwortete er.
Nihal hatte ein Stück Brot aus ihrem Beutel hervorgeholt. »Das hier kann ich ihr geben.« »Schaut euch mal den königlichen Palast über der Stadt an. Der ist herrlich«, fuhr die Alte fort. »Mittags lässt der König die Glocken läuten. Dann wird es still auf den Straßen, und alle gehen essen. Ist es schon Zeit zum Essen?«
Sennar reichte ihr das Brot. »Ja, es ist Zeit zum Essen«, sagte er leise.
»Ein großer Mann ist er, unser König, gut und großmütig. Er hat neue Kanäle bauen lassen und neue Wasserspeicher, und alle haben genug zu essen und zum Leben. Er sei gepriesen, Ler, der König des Landes der Felsen, und lange möge seine Herrschaft währen.« Gierig biss die Alte in das Brot und riss große Stücke heraus. Nihal und Sennar wandten sich zum Gehen, während die Frau wieder zu singen begann.
»Wie mag sie wohl so allein dort überlebt haben?«, fragte Nihal.
Sennar zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sind hier noch irgendwo Vorräte gelagert, oder es gibt einen Gemüsegarten hinter dem Haus..., keine Ahnung... Doch egal wie, lange wird sie nicht mehr durchhalten können.«
Der Singsang erfüllte die Gassen und hallte von den Häuserwänden wider, übertönte sogar noch das Rauschen des Regens, und immer mehr schien es, als seien es unzählige Stimmen, die da sangen, unzählige verlorene Seelen, die durch diese tote Stadt streiften. So verließen die beiden den Ort, während der Regen unaufhörlich weiterfiel und mit jedem Tropfen den Stein zerfraß.
32. Tarephen oder Vom Kampf
Zwei Nächte hintereinander konnten Nihal und Sennar geschützt schlafen, weil sie sich in ähnlichen Städten einen Unterschlupf suchten. Es gab viele solcher Orte in der Gegend, und alle waren sie unbewohnt und verfielen. Die Alte war wahrscheinlich die einzige Überlebende im weiten Umkreis.
»Manchmal kommt es mir so vor, als sei diese Welt bereits tot«, sagte Sennar an einem Abend, »und dass wir gar nichts mehr tun können, um sie zu retten. Was wir erlitten haben, ist nicht mehr ungeschehen zu machen, auch wenn wir den Tyrannen tatsächlich stürzen können.«
Nihal blickte hoch zu den Rissen in dem steinernen Dach über ihnen. »Ich weiß nicht, ob es uns gelingt, aus den Trümmern etwas Neues entstehen zu lassen ...«, fügte Sennar hinzu.
Nihal senkte den Blick. »Ich weiß es auch nicht. Manchmal glaube ich, dass der Schrecken kein Ende haben wird, dass die Geschöpfe dieser Welt bis in alle Ewigkeit weiterleiden werden. Vierzig Jahre lang herrscht der Tyrann bereits uneingeschränkt..., vielleicht ist er gar nicht mehr zu besiegen.«
»Das widerspricht aber dem, was der Wächter Flarens zu dir sagte«, warf Sennar ein. »Er meinte doch, dass alles fließt, dass sich Gut und Böse in einer ewigen Spirale immer wieder ablösen. Wenn es sich so verhält, kommt es schon darauf an, den Tyrannen zu stürzen.« Sennars Worte verhallten in der Dunkelheit.
Ihr Weg führte sie nun aus dem Gebirge hinaus. Nihal spürte, dass ihr Ziel im Westen lag, und so mussten sie den Schutz der schwarzen Berge aufgeben. Sie suchten sich die Flanke aus, die ihnen am leichtesten begehbar erschien, und begannen mit dem Abstieg. Die Ebene, die sich zu ihren Füßen ausbreitete, wirkte unendlich weit und öde. Ganz in der Ferne erkannten sie einen dunklen Fleck.
»Das muss der Wald sein«, sagte Nihal. »Das ist unser Ziel.«
Wieder wanderten sie nur in der Dunkelheit weiter, mit dem ständigen Gefühl, verfolgt zu werden. Im Morgengrauen des elften Tages lag der Wald vor ihnen, eine braune Masse von grenzenloser
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