Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
sich selbst niemals eingestanden hatte?
»Für deine Todessehnsucht brauchst du dich nicht zu schämen«, sprach die Alte in ruhigem Ton weiter. »Es ist nur verständlich, ja folgerichtig, dass sich jemand, der so viel erlitten hat wie du, die Auslöschung dieses Schmerzes ersehnt. Darüber hinaus hat jedes Wesen ein Recht auf Glück, und einem Übel zu entkommen, ist eine Wohltat.«
»Warum erzählst du mir das alles, anstatt mir den Edelstein zu geben?«, fragte Nihal. »Weil ich Mitleid mit dir habe und dir Gelegenheit geben möchte, jenes Glück zu erlangen, das dir zusteht. Dies ist mein Reich«, fuhr Thoolan fort, »hier bin ich Herrin und Herrscherin. Hier gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, kein Oben und kein Unten, alles liegt in meinen Händen und verhält sich nach meinem Willen. Und so biete ich dir an, für immer hier bei mir zu bleiben.«
»Bist du denn genauso wahnsinnig wie Glael?«, stieß Nihal hervor. »Erträgst auch du die Einsamkeit nicht?«
»Nein, ich liebe diesen Ort und seine Stille. Die Einsamkeit ist Balsam für meine Seele, denn nur durch sie finde ich zu mir selbst und kann die Welt verstehen. Ich brauche niemanden sonst. Was ich dir vorschlage, hat nichts mit dem zu tun, was Glael von dir verlangte. Ich biete dir an, bei mir zu bleiben, um dir Freude zu schenken. Zeit ist an diesem Ort ohne Bedeutung. Daher hat auch alles, was dir in deinem Leben zugestoßen ist, seine Bedeutung verloren: Dein Vater wurde nicht erschlagen, dein Volk niemals ausgerottet, und Fen lebt und erwidert deine Liebe.«
Während Thoolan sprach, erschienen nach und nach Gestalten unter den Arkaden. Nihal sah Livon an der Arbeit in seiner Schmiedewerkstatt, sah Straßen und Plätze einer Stadt voller Halbelfen und auch Fen in seiner goldenen Rüstung. Ergriffen betrachtete Nihal die Szenen. Und als sie die Hand ausstreckte, um ihren Vater zu berühren, der gerade ein Schwert schmiedete, drehte Livon sich zu ihr um und lächelte sie an. »Warum kommst du nicht zurück zu mir in meine Werkstatt? Weißt du noch, welchen Spaß es dir als kleines Mädchen machte, mir zu helfen?«
Erschrocken zog Nihal die Hand zurück, doch Livon blickte sie unverwandt an. »Seit wann hast du denn Angst vor mir?«
»Das ist doch alles unmöglich«, rief Nihal. Sie drehte sich zu Thoolan um. »Mit eigenen Augen habe ich Livon sterben sehen, auch Fen und die Halbelfen - es gibt sie nicht mehr. Das sind doch alles alberne Illusionen!«
Thoolans Gesicht erstrahlte zu einem rätselhaften Lächeln. »Wieso nennst du diese Illusionen albern? Alle, die du dort siehst, hast du geliebt. Du kannst sie berühren, sie sprechen mit dir, sie erwarten dich.«
»Aber sie sind nicht echt!«
»Außerhalb dieses Ortes vielleicht nicht. Doch hier in diesen Mauern sind sie es«, erwiderte die Alte. »Und wären sie auch Illusionen, worin besteht letztendlich der Unterschied zur Wirklichkeit? Entschließt du dich zu bleiben, wird dies hier zu deiner Wirklichkeit, und was du jetzt Illusionen nennst, wird tatsächlich existieren. Wer kann schon sagen, was die Wirklichkeit ist, die Welt des Leids dort draußen oder die geliebten Personen, die diesen Ort hier bewohnen? Du hast die Wahl. Die Entscheidung liegt bei dir.«
Nihal blickte Livon in die Augen. Er schien nur darauf zu warten, dass sie zu ihm unter die Arkade trat.
»Hier werde ich dir jeden Wunsch erfüllen. Du kannst dein Leben noch einmal von vorn beginnen, als wäre nichts geschehen. Keine Erinnerung an erlittenen Schmerz wird dich quälen, und du wirst das ganz normale Mädchen sein, das du immer sein wolltest.«
In dem Bogen an der Decke erschien das Bild einer jungen Frau mit spitz zulaufenden Ohren und blauen Haaren, damit beschäftigt, ein Zimmer aufzuräumen und einer ganzen Schar lärmender Kinder etwas zu essen zu kochen.
»Das könntest du sein«, erklärte Thoolan.
Ja, manchmal hatte sie sich das vorstellen können. Dann hatte sie davon geträumt, eine Familie zu haben, eine ganz normale junge Frau zu sein und ein ganz normales Leben zuführen. Bekanntschaft mit diesem Traum hatte sie auch bei Eleusi gemacht. »Nihal, ich biete dir an, was du dir immer gewünscht hast: Den Tod, ohne tot zu sein. Als dich, bevor du hierher fandest, draußen in der Wüste die Stimmen der Geister quälten, hast du dir nur noch Frieden gewünscht, einen Frieden, den du schon seit langer Zeit nicht mehr in dir findest. Dein Frieden liegt jetzt hier in meiner Hand, und ich will ihn dir
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