Die Drachenperle (German Edition)
Dafür sorgte die kluge Ingay. Niemand wollte sich bei kleineren Erkrankungen unnötigerweise an die Ehrwürdige wenden.
„Kiri, morgen habe ich leider wenig Zeit für dich. Ich muss mit meiner Urgroßmutter in die Stadt. So eine typische Heilerangelegenheit, weißt du. Ich soll ein Korn keimen lassen und beweisen, dass ich zu den geborenen Heilern gehöre.“
„So was kannst du?“ , fragte Kiri überrascht.
Taiki winkte ab. „Ich hoffe, wir sind damit schnell fertig. Keine Ahnung, wie das Ganze abläuft. Scheint eher eine festliche Angelegenheit zu sein. Danach kann ich mir Zeit für dich nehmen. Ich hoffe, meine Urgroßmutter gibt dir von ihrer Heilkraft. Dann wirst du schnell wieder gesund. Fürs Erste müssen das Bad und der Tee reichen. Schlaf du dich gut aus. Ingay zeigt dir noch deine Kammer. Wende dich an sie, wenn wir morgen aus dem Haus sind. Ich wünsche dir eine gute Nacht!“
„Ich danke dir. Das wird ganz bestimmt eine gute Nacht.“
Der große Tag war gekommen. Sina ließ sich schicksalsergeben von ihrer Amme ankleiden. Die Großmutter hatte heimlich für ihre Enkelin ein neues Kleid anfertigen lassen. Die Überraschung war ihr auch gelungen. Der Tuchmacher hatte den Stoff bei den besten Schönfärbern erst in Gelb, dann mit Waid überfärben lassen; das Ergebnis war ein gleichmäßiges leuchtendes Grün, das hervorragend zu Sinas Haar passte, das heute besonders sorgfältig gekämmt und kunstvoll zu einer Art Krone geflochten wurde. Das Kleid wies zierliche Stickereien aus rotgoldenem Garn auf. Als Motive hatte Athaja konzentrische Kreise gewählt. Sina gefiel das Kleid sehr, aber nicht der Anlass. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren, sie war ihrer Großmutter Gehorsam schuldig.
Ein Frühstück aus Hirsebrei mit eingeweichtem Trockenobst lehnte Sina ab, ihr war flau im Magen.
„Dann trink wenigstens etwas Honigmilch, Kind. Nun mach schon. Wir müssen langsam los.“
Als sie schließlich den Marktplatz erreichten und die erhöhte Plattform bestiegen, war Mareika schon da und begrüßte ihre Erzfeindin Athaja dermaßen huldvoll, dass es an eine Beleidung grenzte. Beide wussten schon nicht mehr, womit di e Feindschaft den Anfang genommen hatte, nur dass es schon seit gut fünfund zwanzig, eher dreißig Jahren so ging und sich von Jahr zu Jahr gesteigert hatte. Athaja und Sina nahmen auf der Seite der Messerheiler Platz. Zwei Diener in Livree (was Mareika für obszöne Verschwendung und Anmaßung hielt) nahmen mit schlichter Würde hinter ihnen Aufstellung. Drei weitere Messerheiler waren anwesend. In Mareikas Gefolge befanden sich nur Jolim als Diener, der hinter ihrem Stuhl stand, und Lydia, die neben ihrer Mutter saß. Ingay hatte ja den Auftrag, sich um Kiri zu kümmern. Taiki stand unauffällig unter den Zuschauern, die sich schon zahlreich versammelt hatten, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Unter ihnen waren viele Mitglieder der weniger wichtigen Heilerfamilien, die daher nicht auf dem Podium saßen, aber auch gewöhnliche Leute wie Bauern, Handwerker, Reisende und Bürger der Stadt.
Ein hochgewachsener Tempeldiener schlug effektvoll den Gong. Erst leise, dann immer lauter werdend. Beim zwölften Schlag betrat Konradi, früherer Oberster Lehrer im Tempel und jetziger Überwacher des Ritus, das Podium und die raunenden Stimmen ringsum verstummten nach und nach.
Konradi hatte eisengraues, kurzes Haar und weiße, buschige Augenbrauen. Sie sahen ein bisschen wie Schmetterlingsraupen aus, fand Taiki. Der Wächter trug eine dunkelblaue, bodenlange Robe, deren einziger Schmuck eine kunstvoll geschmiedete silberne Gewandfibel in Form eines Mistelzweiges war. In seiner Hand trug er einen gedrechselten Eichenstab, der mindestens genauso alt und würdig wie sein Träger aussah. Taiki wusste, was nun folgen würde, denn seine Urgroßmutter hatte ihn heute früh gut unterwiesen.
„Wir haben uns am heutigen Tage einer sehr alten Tradition folgend versammelt, um die Heilkunst zu ehren, jede Art ihrer Ausübung und jeden Heiler, sei er oder sie nun Messerheiler, Geistheiler, Kräuterkundiger oder Hebamme. Ein jeder tut sein hilfreiches Werk, um die Götter und ihre Schöpfung zu ehren, die uns einst in grauer Vorzeit erschufen. Und einige wenige von uns tun es neuerdings zu Ehren des alleinigen Gottes, den uns die Kirchenmänner aus fernen Landen näher gebracht haben.“
An dieser Stelle nickte er feierlich den schwarzgewandeten Klerikern zu, die sich ebenfalls
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