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Die Drei Federn - Joshuas Reise (German Edition)

Die Drei Federn - Joshuas Reise (German Edition)

Titel: Die Drei Federn - Joshuas Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bolz
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ansah, schien eine düstere Vorahnung in seinen Augen zu liegen, als wüssten sie beide, dass ihnen auf der anderen Seite des Spiegels etwas begegnen würde, das ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen würde.
    Als sie eintraten, schien die kleine Öffnung hinter ihnen zu verschwinden. Sie war nicht wirklich weg, sondern hatte sich vervielfacht, sodass unmöglich zu erkennen war, was der echte Eingang war und was nur sein Spiegelbild. Der Boden, auf dem sie standen, bestand aus tiefschwarzem, poliertem Stein und schluckte das Licht eher, als es zu reflektieren.
    „Wo sollen wir hingehen?“, fragte Joshua.
    „Ich weiß es genauso wenig wie du“, antwortete der Wolf ernst.
    Als sie sich von der Stelle entfernten, an der vermutlich der Eingang lag, legte Joshua den Kopf in den Nacken. Zu beiden Seiten des engen Weges befanden sich Spiegel, die so hoch waren, dass er ihr Ende nicht erspähen konnte. Er sah sich neben dem Wolf im Halbschatten und dachte plötzlich an die Hennen in ihrem Pferch und wie sie ihren Tag verbrachten. Er stellte sich vor, wie sie den Boden aufkratzten, Gras pickten oder einfach in der Sonne saßen... bis der Tod kam und sie holte und er sah, wie sie direkt vor seinen Augen starben. Doch in seiner Vision war es nicht mehr die Eule, die sie holte, sondern ein Wolf. Seine Augen glühten rot und seine blutverschmierte Schnauze brach ihre dünnen Hälse einen nach dem anderen. Er sah das Bild in einem Spiegel, der ihnen gegenüber stand. Er sah den Pferch und den Stall genau vor sich und er sah den Wolf, der in seiner Schar Amok lief.
    „NEIN!“, schrie er in seinen Gedanken. „Geh weg von ihnen! Lass sie in Ruhe!“
    „Joshua!“ Der Ruf des Wolfes holte ihn zurück.
    Die Vision verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war, und alles, was davon blieb, war der Wolf neben ihm in seinem Spiegelbild.
    „Warum hast du sie verlassen, Joshua?“, dachte der Wolf.
    „Wovon redest du?“
    „Warum hast du deine Schar verlassen, obwohl du wusstest, dass du sie damit in Gefahr bringst?“ Der Wolf sah ihn kalt aus dem Spiegel heraus an. Joshua wusste, dass er recht hatte. Tief in seinem Innern war es genau dieser Gedanke gewesen, der ihn seit Beginn seiner Reise begleitet hatte.
    Joshua trat ganz nah an den Spiegel heran und betrachtete sich darin. Er sah sich vor den Hennen herumstolzieren, hochmütig, arrogant, und er hasste sich dafür. Wie konnte er jemals Respekt vor sich selbst gehabt haben? Nun erkannte er, dass er nicht niedriger hätte sinken können. Er sah, wie mickrig und hässlich er war, und er hasste es. So sehr, dass er den Blick abwenden und seine Augen schließen musste, erschüttert von seinem eigenen Spiegelbild.
    „Du hast es nicht verdient, am Leben zu sein.“ Die Gedanken des Wolfes breiteten sich in seinem Kopf aus. Als er die Augen öffnete, sah er den Wolf neben sich. Sein Spiegelbild war verzerrt – eine schreckliche Maske mit langen Reißzähnen und rot glühenden Augen, hinter der ein dumpfes Grollen aufstieg.
    Plötzlich kamen sie an eine Öffnung zu einem zweiten Flur, der von dem ersten weg in eine andere Richtung führte. Einen Moment lang standen sie einfach da, unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollten.
    „Ich denke, wir sollten geradeaus gehen“, dachte Grau.
    „Ich glaube, dieser Weg ist besser.“ Joshua deutete in die Öffnung. Keiner der beiden rührte sich.
    „Vielleicht... sollten wir jeder alleine weitergehen“, dachte Joshua.
    „Das ist keine gute Idee. Wir sollten zusammenbleiben“, dachte der Wolf. „Wenn wir uns nicht trennen, haben wir eine größere Chance, das hier zu überleben.“
    Joshua konnte den Wolf deutlich in seinen Gedanken hören. Doch dahinter hörte er Gelächter. Das spöttische Lachen des Wolfes, das ihm sagte, dass es klar sei, wer hier überleben würde und wer nicht.
    „Ich gehe hier entlang“, hörte Joshua sich selbst denken und zu seiner eigenen Überraschung trat er durch die Öffnung und ging davon.
    Nach einer Weile drehte er sich um, doch der Wolf war verschwunden. Warum war er fortgegangen? Er konnte es auf einmal selbst nicht mehr begreifen. Eben war alles noch so klar gewesen. Sein Freund hatte ihn betrogen. Er hatte sein wahres Gesicht gezeigt, das er hinter einer Maske der Freundschaft verbarg. Ihn betrogen? Er konnte nicht mehr glauben, dass er das wirklich gedacht hatte. Nie zuvor war ihm das in den Sinn gekommen und er glaubte auch nicht daran. Irgendetwas stimmte hier nicht.
    „Grau!

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