Die drei Frauen von Westport
uninteressiert. Miranda hörte weder das Hupen und die erbosten Schreie von Autofahrern, die hinter Lkws feststeckten, noch das Dröhnen von Hubschraubern. Sie hatte keine Kraft, die Außengeräusche wahrzunehmen. Nur die Laute in ihrer Nähe konnte sie hören: ihre Pantoffeln, den murmelnden Fernseher, das Knarren des Betts, wenn sie sich wieder hinlegte, das entnervende Klacken der Plastikdeckel, wenn sie die Dosen mit ihren pappigen Mahlzeiten öffnete, ihren unglücklichen Herzschlag.
Auch mit ihrer anderen Bemerkung lag Felicity durchaus richtig: Es war ein furchtbares Jahr gewesen für die MirandaWeissmann Literary Agency, ein annus horribilis , wie es schlimmer gar nicht sein konnte. »Die Mutter der Skandale« war in den Blogs zu lesen. Und Mirandas Starautoren waren davon betroffen. Als Erstes hatten sich die ergreifenden Gefängnismemoiren von R udy Lake – ein Bestseller, mit dem der Autor Bewährung für den Mord an seiner Frau bekommen hatte – zu großenTeilen als Plagiat eines unbekannten ungarischen R omans aus den Fünfzigerjahren erwiesen; dann stellte sich heraus, dass sich hinter dem siebzehnjährigen walisischen Heroinsüchtigen Bongo Ffrancis eine Hausfrau mittleren Alters aus dem MittlerenWesten verbarg; und zuletzt kam ans Licht, dass Sarah-Gail Laney, die Hausfrau aus dem MittlerenWesten, die über ihre schmerzhafte Suche nach einem normalen Leben schrieb, nachdem sie in Uganda alsTochter von Missionaren aufgewachsen war, die sie sexuell missbrauchten und sich am Ende gegenseitig vergifteten, in Wirklichkeit in Hoboken groß geworden war, wo ihre Eltern noch immer in der ruhigen Zweizimmerwohnung von damals lebten und an den Einnahmen vom Buch beteiligt wurden.
Miranda hatte auf diese Enthüllungen mit ihrer üblichen lautstarken und wirkungslosenVehemenz reagiert; sie beschimpfte zum einen die Presse und dieWelt im Allgemeinen und legte zum anderen gegenüber ihren Autoren eine verwirrende Fürsorglichkeit an denTag. Als der Skandal vor einem halben Jahr publik wurde, hatte sie unermüdlichTermine mit Anwälten gemacht, Interviews arrangiert, Entschuldigungen abgegeben. Inzwischen forderten dieVerlage ihreVorschüsse zurück, Mirandas andere Autoren hatten dasWeite gesucht, und Miranda brauchte die Anwälte, Interviews und Entschuldigungen nicht nur für ihre betrügerischen Memoirenschreiber, sondern auch für sich selbst.
Vor dem Skandal hatte Miranda als Agentin gegolten, die in der kargen Einöde anekdotischer Schilderungen die Goldklumpen erfolgreicher Memoiren sichtete; die am einenTag jemanden im Flugzeug kennen lernte und am nächstenTag einenVertrag über ein Buch abschloss, von dem der Autor zuvor noch nichts geahnt hatte. Sie war im Stande, überallTalente und aufregende Projekte zu entdecken. Begonnen hatte sie mit zwei wunderbar geschriebenen, zutiefst anrührenden Memoiren – eine Kindheit in Rhodesien und eine in Ägypten –, die mit Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Miranda hatte dieWerke aufgespürt, gehätschelt und zum Erfolg geführt. Und gut an ihnen verdient.
In den darauffolgenden Jahren hatte sie kontinuierlich mit derart sicherer Hand außergewöhnliche und authentische Geschichten entdeckt, dass man ihre kleine Agentur auch »Memoirenschmiede« nannte. Und nun hatte sich plötzlich herausgestellt, dass einige dieser außergewöhnlichen und authentischen Geschichten nichts als erfundene Lügen waren.
Miranda war betrogen und belogen worden. Sie war von den Geschichten, die sie mit so viel Liebe und Sorgfalt gepflegt hatte, verlassen worden.Wenn sie sah, wie ihre Mutter unter derTrennung und unter Joes Betrug litt, erkannte sie sich selbst wieder. Es gibt solche und solche Scheidungen, dachte sie. Und ich kriege beide ab.
Und auch Felicitys Äußerung, dass bei Annie nicht mit Skandalen zu rechnen war, traf zu. Annie war eine disziplinierte, ausgeglichene Frau, die sich bemühte, alles so zu nehmen, wie es kam, ohne einen großen Wirbel zu veranstalten. Während Miranda ihre Siegeszüge feierte, vergrub Annie sich zufrieden in ihren Bücherhöhlen und las immer wieder dieselben R omane: die Klassiker aus dem England des neunzehnten Jahrhunderts, die weniger imposantenWerke aus dem England des zwanzigsten Jahrhunderts. Annie war ein nüchterner Mensch, dennoch stand sie mit Fakten auf Kriegsfuß. Das grelle Licht der R ealität, in dem MirandaTag fürTag ihre melodramatischen Kämpfe ausfocht, drang nicht in Annies gedämpfteWelt. Annie kam Miranda
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