Die drei Frauen von Westport
GeorgeWashington und den ersten Band der zweibändigen amerikanischen Erstausgabe von Sinn und Sinnlichkeit . Doch in erster Linie kramte sie zwischen Stapeln von kaputten Stühlen und ausrangierten Heizlüftern herum, weil sie allein sein wollte. Das Alleinsein war ihr ein schmerzhaftes körperliches Bedürfnis geworden. Am Strand inWestport, an dem sie sich zuvor so frei gefühlt hatte, schien es vor Menschen nun förmlich zu wimmeln: Sie waren in ihren Häusern, auf der anderen Seite des Long Island Sound in anderen Häusern, und anderthalb Kilometer weiter rasten sie in ihren Autos den I-95 entlang. Mit Flugzeugen flogen sie über ihr am Himmel hin und her. Sie lagen sogar unter ihr oder jedenfalls nicht weit entfernt in der dunklen stillen Erde. Und sie folgten ihr überallhin. Sie sprachen zu ihr amTelefon und schrieben ihr am Computer. Sie sangen aus Radios, riefenTaxis herbei und verlangten, dass Annie den Fahrstuhl für sie aufhielt. Die Menschen konnten natürlich nichts dafür, sie verhielten sich nur so, wie man es von ihnen erwartete, aber Annie konnte nicht umhin, sie zu verabscheuen.
Auf dem Dachboden jedoch befanden sich nur die Dinge, derer die Menschen sich entledigt hatten. Eine klotzige elektrische Schreibmaschine. Die gerahmte Abschlussurkunde einer gewissen Mildred Peacock Winship vom Barnard College aus dem Jahre 1927. Kupferstiche, Fotografien – es war wie Muschelnsammeln am Strand. Annie genoss das Alleinsein. Aber wer war Mildred Peacock Winship gewesen? Vielleicht eine engagierte Bibliotheksangestellte, eine unverheiratete Frau mittleren Alters, die tippte und die Akten führte, ihren mageren Scheck in Empfang nahm und in ein großes Holzhaus in der Bronx fuhr, um für ihre alten Eltern Abendessen zu machen. Vielleicht war sie aber auch eine Mäzenin gewesen, die der Bibliothek Tausende von Dollar und ihre wertvollen Ausgaben von Emerson und Hawthorne vermacht hatte. Annie dachte müßig, dass sie das herausfinden könne. Doch zugleich war sie Mildred Peacock Winship – wer jene auch gewesen sein mochte – ungemein dankbar dafür, dass sie nicht anwesend war.
Der Dachboden war ein sicherer Ort. Still und abgeschieden. Wie ich, dachte Annie, als sie nach einer besonders ermüdenden Sitzung mit der Bibliotheksleitung zur U-Bahn ging.
»Du bist aber ein hübsches Kerlchen«, sagte eine Frau zu einem Hund, der an eine Parkuhr angebunden war.
Als Annie in der Grand Central Station ausstieg, hielt ein Obdachloser ihr eine angeschlagene Tasse hin und sagte: »Hallöchen, schöne Frau.« Annie überlegte noch, ob sie höflich lächeln und ohne Blickkontakt vorbeihasten oder den Mann einfach nur übersehen sollte, als sie merkte, dass er die Frau hinter ihr meinte. Im Zug wanderte sie durch einige Abteile und hielt nach einem Platz in Fahrtrichtung Ausschau. Schließlich entdeckte sie eine potenziell passende Lücke – den gepflegten Hinterkopf einer Frau, der über drei Plätzen aufragte –, aber als sie dann ihre Tasche auf den mittleren Platz stellen wollte, merkte sie, dass dort ein Kind saß.
Es entstand ein leicht peinlicher Moment, als Annie ihreTasche wieder zurückzog, den Blick der Mutter aufschnappte und erwog, ob es nun als Beleidigung aufgefasst würde, wenn sie weiterging, um sich eine laute und gewiss langweilige Zugfahrt mit Kind zu ersparen, weil ihr besonders an diesem Abend so sehr nach R uhe und Frieden zu Mute war. Sie hatte sich gerade zugunsten der Beleidigung und gegen entnervenden Lärm entschieden, als das Kind etwas sagte.
»Annie!«
Sie blickte überrascht auf das Kind hinunter und erkannte Henry.
Annie breitete die Arme aus, und Henry kletterte rasch auf seinen Sitz und umarmte sie. Die Frau neben ihm war zweifelsfrei seine Mutter. Sie sah ihm nicht nur ähnlich, sondern hatte auch diesen unverkennbar mütterlichen Ausdruck in den Augen. »Sie müssen Henrys Mutter sein«, sagte Annie rasch und streckte der Frau die Hand hin. »Ich bin AnnieWeissmann. Eine Freundin von Henry ausWestport.«
Henry schaute sich um. »Randa?«, fragte er.
»Sind Sie Randa?«, fragte die Frau. »Henry erzählt ganz oft von Ihnen. Ich bin Leanne.«
Annie setzte sich und erklärte, dass es sich bei Randa um ihre Schwester Miranda handelte.
»Miranda ist zuhause«, sagte sie dann zu Henry.
Die Frau hatte kurz geschnittene blonde Haare und blassblaue Augen. Sie trug keinerlei Make-up, was sie auch nicht nötig hatte, denn ihre Haut schimmerte und war so glatt wie die eines
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