Die drei Hellwang-Kinder
abschätzend an, als überlege sie, ob sie es wagen dürfe, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen, das sie bis dahin tief verschlossen mit sich herumgetragen hatte. — »Du, sag einmal«, bohrte sie vorsichtig, »betest du eigentlich noch jeden Abend?«
»Freilich!« antwortete Britta fast entsetzt, daß Lydia solch eine Frage zu stellen wagte, aber es war ihr auch anzumerken, daß sie nicht wußte, worauf Lydias Frage überhaupt hinzielte.
»Und tuts was nutzen?« fragte Lydia kühl.
Britta mußte ihr die Antwort schuldig bleiben. Sie stotterte zwar etwas vor sich hin, aber es waren höchst unklare, verworrene Worte. Beten wäre eben eine besondere Sache, und da käme es sehr darauf an, daß man auch richtig bete...
»Ich bet’ nicht mehr!« sagte Lydia herausfordernd laut und hell, und sie sah Britta mit ihrem Geständnis gerade und trotzig in die Augen. »Hundertmal hab ich gebetet, >Lieber Gott, mach, daß die Luisa zurückkommt und daß dafür die Sieglinda tot umfallt.< Und was ist g’schehn? — Nix!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. Britta nagte an ihren Fingernägeln, eine Untugend, die ihr auszutreiben Fräulein Zögling vom Tage ihres Einzugs an bemüht war.
»Weißt«, murmelte sie nach einer schweren, nachdenklichen Pause, »ich hab auch schon manchmal gemeint, daß der liebe Gott hier katholisch is und von uns Protestanten nix wissen will...«
»Da kannst schon recht haben mit de Brosdanten. Brauchst ja nur nach Maria-Eich gehen, da hängt die ganze Kapelln voll Krücken von de Lahmen und Brillen von de Blinden, denen wo er geholfen hat, aber ‘s san lauter Katholsche!«
Britta angelte ihren Pantoffel mutlos unter dem Bett hervor und hüpfte auf einem Bein ins Badezimmer voraus. Lydia folgte ihr unlustig nach. Söhnchen durfte noch im Bett bleiben und sich die Zeit bis zum Frühstück mit dem Struwwelpeter vertreiben, von dem er die meisten Geschichten auswendig aufsagen konnte.
Wer hörte, wie Lydia sich wusch, mußte glauben, sie läge in einer randvollen Badewanne und sei ständig in Gefahr zu ertrinken. Es war einfach fabelhaft, wie sie es verstand, sich mit einem knappen Liter Wasser im Waschbecken zu prusten, zu schnauben, zu sprudeln und das Badezimmer zu überschwemmen und dabei selbst bis auf die Fingerspitzen knochentrocken zu bleiben. Dafür entwickelte sie beim Zähneputzen um so größeren Eifer, allerdings kam es dabei sehr auf den Geschmack der Zahnpasta an. Beim Stangl gab es eine Sorte, die Blankodont hieß, sie war rosa gefärbt und schmeckte genau wie die Füllung des Königsberger Randmarzipans sanft nach Rosenwasser. Davon verbrauchte Lydia innerhalb von acht Tagen mit Leichtigkeit eine große Tube.
Als die Mädels endlich ins Speisezimmer gingen, um zu frühstücken, saß dort bereits Fräulein Zögling beim Kaffee. Sie trug das hellgraue Kostüm mit der weißen gerüschten Seidenbluse, das sie sich erst vor wenigen Tagen gekauft hatte. Die große lederne Einkaufstasche stand neben ihrem Stuhl. Sie wollte mit dem nächsten Zug in die Stadt fahren, um dort einige Besorgungen zu machen, die sich in Greiffing nicht erledigen ließen. In der Küche mußten ein paar Teller und Tassen von dem weißen Porzellan ersetzt werden, und Hellwang brauchte ein neues Farbband für die Schreibmaschine, ferner Kohlepapier und neue Briefumschläge.
»Ich bin zum Mittagessen wieder daheim. Was werdet ihr inzwischen tun?«
»Im Teich spritzein oder Fangermandl spielen«, antwortete Lydia und schenkte sich die Kakaotasse randvoll. Von dem ach so gesunden Bircher-Benner-Müsli nahm sie sich nur ein winziges Portiönchen auf den Frühstücksteller.
»Ach, und dabei einen rechten Skandal machen und euern Vater stören, der gerade jetzt die Ruhe so dringend braucht!« fiel
Fräulein Zögling scharf ein. »Das kommt gar nicht in Frage! Für eure Spiele habt ihr am Nachmittag Zeit genug. Es ist nicht nötig, daß ihr die Ferien gänzlich vertrödelt. Es wird euch beiden gar nichts schaden, wenn ihr an jedem Vormittag die Nasen wenigstens für zwei kurze Stündchen in die Schulbücher steckt, damit ihr nicht völlig verdummt!«
Britta schluckte schwer an ihrem Brei. Jede einzelne Haferflocke schien sich in einen harten, stacheligen Kloß zu verwandeln. Lydia starrte wütend in den Teller, ihre Augen waren vor Erbitterung pechschwarz. Jetzt war genau das gekommen, was Kathi ihnen prophezeit hatte.
»Wir haben früher in den Ferien nie lernen brauchen!« stieß sie trotzig hervor.
Fräulein Zögling
Weitere Kostenlose Bücher