Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die drei Lichter der kleinen Veronika

Die drei Lichter der kleinen Veronika

Titel: Die drei Lichter der kleinen Veronika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Kyber
Vom Netzwerk:
geschmückt wie eine sorgsam gemalte Chronik. Eine solche alte Chronik war Schloß Irreloh, und seine Mauern redeten eine unheimliche Sprache für den, der sie zu lesen verstand. Schloß Irreloh lag sehr viel weiter von Halmar entfernt als das Haus der Schatten. Ein dunkler Tannenwald umrahmte es, der langsam ansteigend in föhrenbewachsene Dünen überging. Hinter ihnen war das Meer. Die grünen Wellen der Ostsee rollten mit weißen Kämmen heran und schlugen eintönig an den Ufersand und an die teergestrichenen, schwarzen Fischerboote, die vereinzelt am Strande vertäut waren. Und die Brandung sang ihr Lied hinüber bis in den stillen Park von Irreloh. Auf der anderen Seite des Schlosses dehnte sich rote Heide, und über sie führte der Weg zum Hause der Schatten und weiter nach Halmar mit seinen engen, winkeligen Gassen und den kleinen, alten Häuschen, die ein spitzer Kirchturm überragte. Bis hierher hörte man die Brandung der See nicht mehr, und das war wohl richtig so, denn die Brandung hatte den friedlichen Häusern von Halmar nichts zu sagen, aber Schloß Irreloh hatte sie viel zu erzählen, und sie tat es Tag und Nacht. Es waren alte und traurige Geschichten, von denen die Brandung sang, und es wäre gut für Schloß Irreloh gewesen, wenn es diese Geschichten nicht mehr zu hören brauchte. Doch es mußte sie hören, denn es waren Geschichten, die ja auch in der alten Chronik von Irreloh standen. Sie flüsterten in den alten Mauern dasselbe Lied, das die Brandung sang, und sie redeten ihre eigene unheimliche Sprache einem jeden, der sie zu hören und zu lesen verstand. Das konnten nicht mehr viele von den Menschen, die heute lebten, aber die Lettern und Zeichen der alten Geschichten stehen überall da, auch wenn sie nicht gelesen und nicht mehr verstanden werden.
    Ach, wäre es nicht besser, man würde die verwaschenen Lettern lesen und die verschlungenen Zeichen deuten? Würde man nicht klarer sehen, wohin die Wege und Umwege führen, die man wandert, wenn man mehr darauf bedacht wäre, den Boden zu kennen, auf den man den Fuß setzt? Ihr, die ihr heute atmet, denkt daran, wie viele vor euch diese Straße gingen, liebten und haßten, beteten und sündigten. Der Sand des Ufers, das ihr betretet, hat schon viele Spuren vor euch in sich drücken und wieder verwehen lassen – in Trauer und Frohsinn eurer Reden mischen sich ferne, fremde Stimmen, in eure Gedanken andere Gedanken, die hier einmal gedacht wurden, und in die Kränze, die ihr dem Leben flechtet, binden unsichtbare Hände welke Blumen, die einmal in vergangenen Tagen geblüht. Es ist alles Geschehen so seltsam miteinander verwoben. Wie vieles könnte man klären, wie manches vermeiden, wenn man bewußter durch dieses Dasein ging. Aber wir wandern im Dunkel der Dämmerung, die über uns gekommen ist, und die Schatten alter Zeiten wandern mit uns.
    Ach, Ulla Uhlberg, wärst du nach Schloß Irreloh gezogen, wenn du das Lied der Brandung verstündest, wenn du die Lettern der alten Mauern und die Zeichen der dunklen Torbogen lesen könntest? Wärest du hergekommen, wenn du geschaut hättest, wie viele welke Kränze in den Gängen und Hallen hängen, und wenn du es hören würdest, wie erloschene Stimmen sich die alten Geschichten von Irreloh erzählen? Ich weiß es, du bist hierher gezogen, um dem nahe zu sein, den du liebst. Aber Schloß Irreloh ist kein Ort, um ein Rosenlager zu bereiten, seine grauen Gewölbe ersticken die Seligkeit heimlicher Liebesträume, und nach deinen heißen, sehnsüchtigen Gedanken greifen kalte Gespenster. Ach, Ulla Uhlberg, du bist eine starke und stolze Frau, aber du wirst nicht stark genug sein, um die Geister von Irreloh zu bannen. Du weißt ja auch nichts von ihnen. Wie soll man kämpfen und siegen, wenn man es nicht weiß, was man bekämpfen und besiegen soll?
    Nein, Ulla Uhlberg wußte nichts von den Geistern von Irreloh. Sie war als kleines Mädchen in die Schule von Halmar gegangen, als sie nach dem frühen Tod der Eltern zu einer Tante gekommen war, die dort wohnte. Es war eine stille Welt gewesen, in der sie mit den Kindern von Halmar aufgewachsen war, und die engen Gassen des kleinen Städtchens waren ihre Heimat geworden. Aber Ulla Uhlberg sehnte sich nach dem Großen, dem Grenzenlosen, sie träumte von Pracht und Glanz, von Leben und Lachen in schimmernden Hallen, und wenn sie davon träumte, erschien es ihr immer, als kenne sie das alles, als käme sie von dort her und müsse wieder dahin zurückgelangen. Doch

Weitere Kostenlose Bücher