Die drei Musketiere 2
Haus auf. Der Portier öffnete auf Kittys Bitte in demselben Augenblick das Tor, da Mylady
»öffnet nicht!« rief.
Der junge Mann floh, während sie ihn mit einer ohnmächtigen Gebärde bedrohte. In der Sekunde, in der sie ihn aus dem Auge verlor, stürzte sie ohnmächtig in ihrem Zimmer nieder.
6
D’Artagna n war in so gewaltiger Aufregung, daß er, ohne daran zu denken, was aus Kitty wurde, in größter Eile halb Paris durchlief und nicht eher anhielt, als bis er sich vor Athos’ Tür befand.
Grimaud öffnete mit schlaftrunkenen Augen. D’Artagnan stürzte mit solcher Heftigkeit in das Vorzimmer, daß er ihn beinahe umgeworfen hätte.
Athos brach bei all seinem Phlegma in ein Gelächter aus, das d’Artagnans sonderbare Bekleidung, wie er sie aus Myladys Schlafzimmer noch an sich trug, wohl hervorrufen konnte.
63
»Lacht nicht, mein Freund!« rief d’Artagnan, »um Himmels willen, lacht nicht, denn bei meiner Seele sage ich Euch, es ist kein Grund zum Lachen vorhanden.«
Und er sprach diese Worte mit einer so feierlichen Betonung und mit einem so unzweideutigen Ausdruck des Schreckens, daß Athos ihn bei der Hand nahm und ausrief:
»Seid Ihr verwundet, mein Freund? Ihr seht sehr bleich aus.«
»Nein, aber es ist mir soeben etwas Furchtbares begegnet.
Seid Ihr allein, Athos?«
»Bei Gott, wer soll denn zu dieser Stunde bei mir sein?«
D’Artagnan stürzte in Athos’ Zimmer.
»Ei, so sprecht doch«, sagte dieser, die Tür verschließend. »Ist der König tot? Habt Ihr den Kardinal umgebracht? Ihr seid ganz verwirrt. Sprecht! Laßt hören! Denn ich sterbe in der Tat vor Unruhe.« – »Athos«, antwortete d’Artagnan, »bereitet Euch vor, eine unglaubliche, unerhörte Geschichte zu erfahren!« – »Redet doch.« – »Nun wohl«, fuhr d’Artagnan, sich zu Athos’ Ohr neigend und die Stimme dämpfend, fort, »Mylady ist mit einer Lilie auf der Schulter gezeichnet.« – »Ha!« rief der Musketier, als ob ihn eine Kugel ins Herz getroffen hätte. – »Sagt, seid Ihr sicher, daß die andere tot ist?« – »Die andere?« versetzte Athos mit so dumpfer Stimme, daß es d’Artagnan kaum hörte. – »Ja, ja, von der Ihr mir eines Tages in Amiens erzä hlt habt.«
Athos stieß einen Seufzer aus und ließ den Kopf in seine Hände fallen.
»Diese«, fuhr d’Artagnan fort, »ist eine Frau von
sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren.« – »Blond?«
fragte Athos. – »Ja.« – »Blaue, helle Augen, von seltener Klarheit, mit schwarzen Wimpern und Brauen?« – »Ja.« –
»Groß, gut gewachsen? Es fehlt ihr ein Zahn neben dem Augenzahn auf der linken Seite?« – »Ja.« – »Die Lilie ist klein und rot, etwas verwischt durch Pflaster, die man aufgelegt hat?«
– »Ja.« – »Ihr sagt jedoch, diese Frau sei eine Engländerin?« –
64
»Ja, man nennt sie Mylady, aber sie kann dessen ungeachtet eine Französin sein. Lord Winter ist nur ihr Schwager.« – »Ich will sie sehen, d’Artagnan!« – »Nehmt Euch in acht, Athos, nehmt Euch in acht. Ihr wolltet sie töten! Sie ist die Frau, um gleiches mit gleichem zu vergelten.« – »Sie wird es nicht wagen, etwas zu sagen, denn sie würde sich dadurch selbst verraten.« – »Sie ist zu allem fähig! Habt Ihr sie je wütend gesehen?« – »Nein«, sagte Athos. – »Eine Tigerin! Ach, mein lieber Athos, ich fürchte sehr, eine gräßliche Rache auf uns herabbeschworen zu haben!«
D’Artagnan erzählte nun alles, den wahnsinnigen Zorn Myladys und ihre Todesdrohungen.
»Ihr habt recht, und ich würde für mein Leben keinen Sou geben«, sagte Athos. »Zum Glück verlassen wir Paris übermorgen, wir ziehen höchstwahrscheinlich nach La Rochelle, und wenn wir einmal fort sind …« – »Wird sie Euch verfolgen bis ans Ende der Welt, Athos, wenn sie Euch wiedererkennt.
Laßt also ihren Haß sich gegen mich allein wenden.« – »Ei, mein Lieber, was ist daran gelegen, wenn sie mich tötet? Glaubt Ihr etwa, ich hänge am Leben?« – »Dahinter steckt noch ein furchtbares Geheimnis. Die Frau steht im Sold des Kardinals.
Davon bin ich fest überzeugt.« – »Dann seid auf Eurer Hut!
Kann Euch der Kardinal nicht offen angreifen, so ist seine geheime Verfolgung um so furchtbarer. Wenn Ihr ausgeht, geht nicht allein aus, wenn Ihr eßt, seid vorsichtig. Mißtraut selbst Eurem Schatten.«
»Zum Glück handelt es sich nur darum«, sagte d’Artagnan,
»die Zeit bis übermorgen zu überstehen. Denn sind wir einmal bei der Armee, so haben
Weitere Kostenlose Bücher