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Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition)

Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition)

Titel: Die dreißig tolldreisten Geschichten - 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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wiederkannte. Das gab ihm das Recht, auch niemand mehr zu kennen. Da ihm aber bereits der Magen vor Hunger knurrte, beschloß er bei sich, einen Beruf zu ergreifen. Es sollte aber einer sein, der keine Arbeit verlangte und doch sehr einträglich wäre. Wie er darüber nachdachte, fielen ihm die Spatzen und Drosseln wieder ein. Da entschloß er sich kurzerhand und wählte den Beruf eines Bettlers und Landstreichers. Und siehe, wo er die Hand ausstreckte, erhielt er von den mitleidigen Leuten seinen Obolus. Wahrlich, er konnte zufrieden sein. Er fand seinen Beruf ganz herrlich. Es war vor allem ein Beruf, bei dem nichts zu verlieren war. Einen bequemeren Beruf konnte es in der Welt nicht geben. Und weil er sein Handwerk liebte, liebten ihn die Menschen. Er war überall wohl empfangen und erhielt tausend Tröstungen, die dem Reichen verweigert werden. Er sah die Landleute säen und mähen, pflanzen und ernten und sagte bei sich in seinem Herzen: ›Wie doch die Leute sich plagen, um mich zu nähren.‹ Wer ein Schwein in seinem Stalle hatte, schuldete, ohne es zu bedenken, dem Tryballot ein Stück davon, und der Hausfrau, die einen Ofen voll Brot buk, kam nicht der Einfall, daß eines davon notwendig dem Tryballot gehörte. Dennoch nahm er nichts mit Gewalt, im Gegenteil, die Leute gaben ihm noch gute Reden obendrein.
    »Da, alter Vagierer«, sagten sie, »laß dir's schmecken! Geht's gut? Komm, das hat die Katze abgenagt, iß du's vollends auf.«
    Bei allen Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen erschien Tryballot; denn er war überall, wo die Menschen, offen oder versteckt, sich ein Fest gaben. Mit großer Strenge beobachtete er das oberste Gesetz seines Berufs, nämlich: niemals etwas zu arbeiten. Denn wenn er gezeigt hätte, daß er auch nur das geringste arbeiten könne, würde ihm kein Mensch mehr einen Bissen gegeben haben.
    Wenn er sich den Wanst gefüllt hatte, der Philosoph, streckte er sich in einem Straßengraben aus oder lehnte sich an den Pfeiler einer Kirche und träumte von den öffentlichen Angelegenheiten. Dann meditierte er über die Philosophie seiner liebenswürdigen Lehrer, der Herren Finken, Drosseln und Spatzen; denn wenn er auch am Leibe mit Lumpen bekleidet war wie ein Bettler, hatte er im Kopf doch keine lumpigen Gedanken. Das eine ist nicht notwendig die Folge des andern. Vielmehr war sein Gehirn glänzend ausgestattet. Mit seiner Philosophie belustigte er nicht wenig seine Kundschaft, denen er für die Brocken, die von ihrem Tische fielen, die Aphorismen, id est Brocken und Abfälle seiner Weisheit, mitteilte. Er sagte zum Beispiel, die Reichen hätten nur darum die Gicht, weil ihre Füße immer in weichen Pantoffeln steckten. Und er rühmte sich, so gut auf den Beinen zu sein, weil er per pedes apostolorum ginge. Er sprach von den Kopfschmerzen gekrönter Häupter, wovon er verschont sei, da weder Sorgen noch Kronen seine Stirne drückten und keine Ringe und Edelsteine ihm den Blutumlauf hinderten. In der Tat fühlte er sich gesund wie ein neugeborenes Kind, obwohl er sich von Zeit zu Zeit, wie es sein Beruf verlangte, die schlimmsten Wunden beibrachte.

     
    Der Gevatter belustigte sich viel mit andern seinesgleichen. Willkommenen Zeitvertreib verschafften ihm seine drei Würfel, die er sorgfältig aufgehoben hatte, um damit jederzeit sein Geld verspielen zu können und also seinem Gelübde der Armut nicht untreu zu werden. Aber wie den Bettlerorden flossen ihm seinem Gelübde zum Trotz so viele Einkünfte zu, daß er einmal an einem Ostersonntag zehn Taler ausschlug, die ihm ein Mitbruder zum voraus für das Erträgnis des Tages geboten hatte. In der Tat konnte er am Abend vierzehn Taler für ein Festessen und Bankettieren ausgeben, das er seinen Kameraden, den Almosenspendern zu Ehren, veranstaltete, da es zu den Gesetzen des Bettlertums gehört, gegen die Geber dankbar zu sein. Obwohl er sich sorgfältig alles dessen entledigte, was den andern Sorge machte, als welche, weil es ihnen zu gut geht, sich Kümmernisse suchen, war er unendlich besser daran, als wenn er sich mit den Talern seines Vaters durchs Leben geschleppt hätte. Er konnte sich sogar von Adel dünken; denn er tat nur, was seiner Phantasie zusagte, und lebte in Hülle und Fülle, ohne eine Hand zu rühren. Er wäre für dreißig Taler nicht aufgestanden, wenn er sich einmal zur Ruhe hingelegt hatte. Seine Lebensregel war: Kommt der Tag, bringt der Tag, und wenn wir dem Meister Plato glauben dürfen, dessen Autorität schon

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