Die dreizehnte Gabe: Der Dunkle Wald (Die 13. Gabe) (German Edition)
Achtzig?«
»Du
weißt, wie alt ich bin Michel. Schon vergessen, seit wann wir
uns kennen? Seitdem du so klein warst.« Sie versuchte mit ihren
nicht gehorchenden Händen, die Größe eines
Kleinkindes zu zeigen. Ihre Finger zitterten stark und sie zog sie
wieder zu sich heran.
Michel
blickte neugierig auf. »Parkinson? Oder hat dich jemand
verzaubert?«
Sofie
überkam ein schrecklicher Gedanke. Sie hatte dem alten Mann,
ohne Fragen zu stellen, stets hundertprozentig vertraut. Was war,
wenn er sie nur ausnutzte? Was war, wenn
er ein Agent, geschickt vom Dunklen Rat, war, der sie lähmen
sollte, um sie dann endgültig zur Strecke zu bringen? Nein. Sie
war eindeutig ein Dorn im Auge des Dunklen Rates, hatte sie doch jede
Menge seiner Pläne verhindert und so viele Menschen vor ihm
gerettet. Doch wieso sollte der Dunkle Rat den alten Magier schicken,
der sie lähmte und einen Vampir, der sie schließlich
umbrachte? »Der
Dunkle Rat hat dich geschickt?«
»Nein
Sofie, nicht der Dunkle Rat.«
»Aber
wer sollte es denn sonst sein?«
»Das
geht dich nichts an. Du bist«, er blickte kurz auf ihre
zitternden Glieder, »du warst einer der mächtigsten Magier
beider Welten. Doch nun werde ich mit dir Schluss machen!«
Kurzzeitig
überfiel das einschläfernde Gefühl auch ihr Gehirn und
sie überkam eine Erinnerung tief aus der Vergangenheit.
Der
kleine Michel hatte auf dem Schoß seiner Mutter im Park der
magischen Stadt St. Benedikt gesessen.
Sofie
war mit ihrer Kutsche an der Bank vorbeigefahren und hatte dem
Kutscher befohlen, die Zugtiere anzuhalten. Sie wurde freundlich von
der Mutter begrüßt und Sofie lächelte deren Sohn
liebevoll an. Damals war er noch kein Vampir. Der kleine Michel hatte
einen braunen Haarschopf und sein Gesicht war verschmiert von
Schokolade. Er lächelte verschmitzt zu Sofie auf.
»So,
der kleine Michel hat wieder mal zu viel Schokolade gefuttert«,
sagte Sofie lächelnd und Michel schüttelte freudig seinen
Kopf.
»Du
meinst, es war nicht viel?«
Michel
nickte kurz und lächelte Sofie weiterhin an.
»Na
gut! Wenn deine Mutter es erlaubt, dann bekommst du einen Lutscher
von mir.«
»Bitteeeeeee!«
Seine
Mutter hatte schließlich lachend genickt.
»Okay,
was sagt man?„.
»Dankeschön«,
hatte Michel leise gesagt.
Sie
sah in das weiße Gesicht des erwachsenen Michels. Seine Lippen
waren blutrot, die Haare nicht mehr braun, sondern tiefschwarz und
schulterlang, seine Augen nicht mehr blau, sondern dunkelgrau. Sofie
versuchte, mit dem Teil ihres Hirns, der ihr noch gehorchte, zu
überlegen, ob graue Augen ein normales Anzeichen für einen
Vampir waren.
»Jetzt
ist keine Zeit für ein Mittagsschläfchen Sofie«,
sagte Michel laut.
Sie
blinzelte angestrengt. Michel und der gesamte Raum begannen, wild
durch die Gegend zu springen.
Sofie
dachte daran, wie schön die Zeit war, aus der die Erinnerung
kam. Es war eine ruhige und friedliche Zeit gewesen. Sie versuchte
vergeblich, klar im Kopf zu bleiben, doch das einschläfernde
Gefühl hatte endgültig ihr Hirn erreicht.
Sie
war nie verheiratet gewesen. Sie war siebenundachtzig Jahre alt
geworden und hatte nie einen Freund gehabt. Ihre Nichte hatte
gefragt, weshalb sie so alt wurde.
»Das
ist weil ich meine Ruhe vor den Männern hatte«, hatte sie
geantwortet. Ihre Nichte war damals so jung gewesen. Heute war sie eine
erwachsene Frau, die die Firma ihrer Mutter geerbt hat.
Sie
liebte ihre Nichte wie ihre eigene Tochter, deshalb hätte sie
ihr Anwesen am liebsten ihr allein vererbt, doch das entsprach nicht
dem Wunsch des alten Mannes. Wie hieß er noch mal? Sie
erinnerte sich nicht mehr. Ja er war der einzige Mann in über
achtzig Jahren auf den sie gehört hatte. War sie auch in ihn
verliebt gewesen?
»Nun,
wie ich sehe, nippelst du noch ohne mein Zutun ab. Deshalb werde ich
dich jetzt erlösen, Sofie
Sonnenschein.« Michel hob seine Hände und ein seltsames
Geräusch, ein lautes Surren, erfüllte Sofies betäubte
Ohren. Als wäre sie festgebunden, zog sie ein unsichtbares Seil
in die Luft und über das Geländer.
Wann
war Michel wohl zu einem Vampir geworden? Er war mit dreizehn für
zwei Wochen im Dunklen Wald verschwunden. Vermutlich war es da
geschehen.
Es
war wie als würde das Seil sie in Zeitlupe fallen lassen. Als
sie die vielen Stockwerke hinabfiel konnte sie das grinsende Gesicht
Michels über der Brüstung noch lange erkennen, zusammen mit
seinen neblig grauen Augen.
Sie,
viel zu betäubt, um Angst
zu verspüren
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