Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
unbekannt war. Da ihm Geld und Proviant ausgegangen war, nahm Druss eine Arbeit bei einem Baumeister in der Hauptstadt an, der den Auftrag hatte, die zertrümmerten Stadtmauern wieder zu errichten. Vier Monate lang schuftete Druss Tag für Tag, bis er genug Gold für die Rückreise nach Süden hatte.
In den fünf Jahren seit den Siegen bei Capalis und Ectanis hatte Gorben, der ventrische Kaiser, acht größere Schlachten gegen die Naashaniter und ihre ventrischen Verbündeten geschlagen. Die beiden ersten hatte er eindeutig gewonnen, die letzte ebenfalls. Doch die anderen waren bis zum Stillstand gekämpft worden, und beide Seiten erlitten gewaltige Verluste. Fünf Jahre blutiger Krieg, und bis jetzt konnte noch keine Seite sich dem Sieg nahe fühlen.
»Komm hier lang«, sagte Varsava. »Hier ist etwas, das du sehen solltest.«
Der Messerkämpfer verließ den Pfad und kletterte einen kurzen Hang hinauf, auf dem ein verrosteter Eisenkäfig in die Erde eingelassen war. In dem kuppelförmigen Käfig lagen ein Haufen vermodernder Knochen und ein Schädel, der noch immer Reste von Haut und Haaren aufwies.
Varsava kniete bei dem Käfig nieder. »Das war Vashad – der Friedensstifter«, sagte er. »Man hat ihn geblendet und ihm die Zunge herausgerissen. Dann wurde er hier angekettet. Man ließ ihn verhungern.«
»Was hat er denn getan?« fragte Druss.
»Ich sagte es schon: Er war ein Friedensstifter. Diese Welt mit ihren Kriegern und ihrer Wildheit hat keinen Platz für Menschen wie Vashad.« Varsava setzte sich und nahm den breitkrempigen Hut ab.
Druss schob den Rucksack von den Schultern und setzte sich neben Varsava. »Aber warum sollte man ihn auf diese Weise töten?« wollte er wissen.
Varsava lächelte, doch in seinen Augen lag kein Humor. »Siehst du so viel und weißt doch so wenig, Druss? Der Krieger lebt für Ruhm und Kampf, mißt sich mit seinen Gegnern, handelt mit dem Tod. Er betrachtet sich selbst gern als edel, und wir erlauben ihm solche Eitelkeiten, weil wir ihn bewundern. Wir schreiben Lieder über ihn, und wir erzählen Geschichten über seine Ruhmestaten. Denk nur an die vielen Drenailegenden. Wie viele handeln von Friedensstiftern oder Dichtern? Es sind Geschichten von Helden – Männern von Blut und Kampf. Vashad war ein Philosoph. Er glaubte an eine Sache, die er den Adel des Menschen nannte. Er war ein Spiegel, und wenn Kriegsstifter ihm in die Augen sahen, sahen sie sich selbst – ihr wahres Selbst – darin. Sie sahen die Dunkelheit, die Wildheit, die Lust und die gewaltige Dummheit ihres Lebens. Sie konnten nicht widerstehen, ihn zu töten; sie mußten den Spiegel zerschmettern. Deshalb haben sie ihm die Augen ausgestochen und ihm die Zunge herausgerissen. Dann ließen sie ihn hier … und hier liegt er noch.«
»Willst du ihn begraben? Ich helfe dir dabei.«
»Nein«, sagte Varsava traurig. »Ich will ihn nicht begraben. Andere sollen ihn sehen, damit sie wissen, wie dumm es ist, die Welt verändern zu wollen.«
»Haben die Naashaniter ihn getötet?« fragte Druss.
»Nein. Er wurde lange vor dem Krieg getötet.«
»War er dein Vater?«
Varsava schüttelte den Kopf, und seine Miene wurde hart. »Ich kannte ihn nur lange genug, um ihm die Augen auszustechen.« Er starrte Druss ins Gesicht, um seine Reaktion zu sehen; dann sprach er weiter. »Ich war damals Soldat. Wundervolle Augen, Druss – groß und schimmernd, blau wie der Sommerhimmel. Und das letzte, was sie sahen, waren mein Gesicht und das brennende Eisen, das sie zerschmolz.«
»Und jetzt verfolgt er dich?«
Varsava stand auf. »Ja, er verfolgt mich. Es war eine schlimme Tat, Druss. Aber ich hatte meine Befehle, und ich führte sie aus, wie ein Ventrier es tun sollte. Sofort danach habe ich mein Kommando niedergelegt und die Armee verlassen.« Er warf einen Blick auf Druss. »Was hättest du an meiner Stelle getan?«
»Ich wäre nicht an deiner Stelle gewesen«, antwortete Druss und schulterte seinen Rucksack.
»Stell es dir doch mal vor. Sag’s mir!«
»Ich hätte mich geweigert.«
»Ich wünschte, ich hätte es auch getan«, gestand Varsava, und die beiden Männer kehrten wieder zum Pfad zurück. Sie wanderten schweigend ein, zwei Kilometer; dann setzte Varsava sich am Wegrand nieder. Die Berge ragten hoch und mächtig um sie auf, und ein schriller Wind pfiff durch die Gipfel. Hoch über ihnen kreisten zwei Adler. »Verabscheust du mich, Druss?« fragte Varsava.
»Ja«, gab Druss zu, »aber ich mag dich
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