Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
Eimer hin und streckte die Hand aus. »Bist du das?« flüsterte er.
»Du bist blind?«
»Fast. Ich sagte doch, daß ich fünf Jahre in dieser Zelle verbracht habe. Komm, folge mir.« Er ließ den Eimer liegen und machte kehrt, ging einen gewundenen Korridor entlang und stieg eine enge Treppe hinunter. Dann stieß er eine Tür auf und führte Druss ins Zimmer. Es war klein, hatte aber ein schmales Fenster, das einen Sonnenstrahl hineinließ. »Warte hier«, sagte er. »Ich bringe dir etwas zu essen und zu trinken.«
Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem halben Laib frischgebackenem Brot, einem Stück Käse und einem Krug Wasser zurück. Druss verschlang das Essen und trank in tiefen Zügen; dann lehnte er sich auf der Pritsche zurück.
»Ich danke dir für deine Freundlichkeit«, sagte er. »Ohne sie wäre ich schlimmer dran als tot. Ich wäre verloren.«
»Ich war etwas schuldig«, sagte der Krüppel. »Ein anderer Mann hat mich mit Essen versorgt, so wie ich dich. Sie haben ihn dafür umgebracht – Cajivak ließ ihn pfählen. Ich hätte nie den Mut dazu gefunden, wäre mir die Göttin nicht in einem Traum erschienen. War sie es, die dich aus dem Kerker gebracht hat?«
»Göttin?«
»Sie hat mir von dir erzählt und von deinem Leid, und sie erfüllte mich mit Scham über meine Feigheit. Ich schwor ihr, daß ich alles tun würde, um dir zu helfen. Da berührte sie meine Hand, und als ich erwachte, waren alle Schmerzen in meinem Rücken verschwunden. – Hat sie den Stein verschwinden lassen?«
»Nein, ich habe den Wärter ausgetrickst.« Druss erzählte dem Alten von seiner List und seinem Kampf mit den Wächtern.
»Man wird sie erst im Laufe der Nacht finden«, sagte der Krüppel. »Ach, was würde ich dafür geben, ihre Schreie zu hören, wenn im Dunkeln die Ratten kommen.«
»Warum sagst du, die Frau in deinem Traum wäre eine Göttin?« fragte Druss.
»Sie sagte mir ihren Namen. Pahtai. Das ist die Tochter der Erdmutter. Und in meinem Traum wanderte sie mit mir über die grünen Hügel meiner Jugend. Ich werde sie nie vergessen.«
»Pahtai«, sagte Druss leise. »Sie ist auch zu mir in die Zelle gekommen und gab mir Kraft.« Er stand auf und legte dem alten Mann eine Hand auf den Rücken. »Du hast viel riskiert, um mir zu helfen, und ich habe keine Zeit mehr auf dieser Welt, um es dir zurückzuzahlen.«
»Keine Zeit?« wiederholte der alte Mann. »Du kannst dich hier verstecken und bei Dunkelheit fliehen. Ich werde ein Seil besorgen. Dann kannst du dich von der Mauer herunterlassen.«
»Nein. Ich muß Cajivak finden – und ihn töten.«
»Gut«, sagte der alte Mann. »Die Göttin wird dir die Macht geben, ja? Sie wird deinem Körper Kräfte verleihen?«
»Ich fürchte nein«, antwortete Druss. »Das muß ich allein schaffen.«
»Du wirst sterben! Versuch’s nicht«, flehte der alte Mann. Tränen strömten aus seinen blicklosen Augen. »Ich bitte dich. Er wird dich vernichten! Er ist ein Ungeheuer mit der Kraft von zehn Männern. Sieh dich selbst an. Ich kann dich nicht deutlich sehen, aber ich weiß, wie schwach du sein mußt. Du hast eine Chance zu leben, frei zu sein, die Sonne auf deinem Gesicht zu spüren. Du bist jung – was willst du mit dieser Torheit erreichen? Cajivak wird dich zermalmen und dich entweder umbringen oder zurück in dieses Erdloch stopfen.«
»Ich bin nicht geboren, um davonzulaufen«, sagte Druss. »Und vertrau mir, ich bin nicht so schwach, wie du glaubst. Dafür hast du gesorgt. Jetzt erzähl mir von der Festung und wohin die Treppen führen.«
Eskodas fürchtete den Tod nicht, denn er liebte das Leben nicht – eine Tatsache, die ihm seit vielen Jahren bewußt war. Seit man seinen Vater aus ihrem Haus gezerrt und gehängt hatte, hatte er keine tiefe Freude mehr empfunden. Er spürte den Verlust, nahm ihn jedoch in einer ruhigen und stillen Art hin. Auf dem Schiff hatte er Sieben erzählt, daß er gern Menschen tötete, doch das entsprach nicht der Wahrheit. Er empfand überhaupt nichts, wenn sein Pfeil traf – nur eine kurze Befriedigung darüber, wenn ein Schuß ihm besonders gut gelungen war.
Jetzt, als er mit Varsava zu der grauen, abweisenden Halle schlenderte, fragte er sich, ob er wohl sterben würde. Er dachte an Druss, wie er unter der Festung in einem dunklen, feuchten Kerker gefangengehalten wurde, und er fragte sich, was eine solche Kerkerhaft wohl mit seiner eigenen Persönlichkeit anrichten würde. Die schönen Dinge dieser Welt bereiteten
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