Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
Finger dicht über dem Mondstein schwebten. Rowena zog die Hand zurück; dann setzte sie sich. Sie hörte, wie Pudri das Zimmer betrat.
»Das hast du getragen, als ich dich zum erstenmal sah«, sagte er sanft. Sie nickte, antwortete jedoch nicht. Der kleine Ventrier kam näher und reichte ihr einen Brief, versiegelt mit rotem Wachs. »Der Herr bat mich, dir das zu geben, wenn du sein … Geschenk gesehen hast.«
Rowena erbrach das Siegel und öffnete den Brief. Er war in Michaneks klarer, kräftiger Schrift geschrieben.
Ich grüße Dich, Geliebte.
Ich bin geschickt im Umgang mit dem Schwert, und doch würde ich in diesem Augenblick meine Seele verkaufen, um ebenso geschickt mit Worten zu sein. Vor langer Zeit, als Du im Sterben lagst, bezahlte ich drei Zauberer dafür, daß sie Dein Talent tief in Dir verschlossen. Dabei schlossen sie auch die Türen Deiner Erinnerung. Die Brosche war, wie sie mir sagten, als Geschenk der Liebe für dich gemacht worden. Sie ist der Schlüssel zu Deiner Vergangenheit und ein Geschenk für Deine Zukunft. Von all dem Kummer, den ich erlebt habe, ist keiner so groß wie das Wissen, daß Deine Zukunft ohne mich stattfinden wird. Doch ich habe Dich geliebt, und ich bereue keinen einzigen Tag. Und wenn ich durch ein Wunder in die Vergangenheit zurückkehren und Dich noch einmal umwerben könnte, würde ich es genauso tun, in vollem Bewußtsein desselben Ausgangs.
Du bist das Licht meines Lebens und die Liebe meines Herzens. Leb wohl, Pahtai. Möge Dein Pfad ohne Mühsal sein und Deine Seele viele Freuden erfahren.
Der Brief entfiel ihren Händen und glitt zu Boden. Pudri machte rasch einen Schritt nach vorn und legte ihr seinen schmalen Arm um die Schultern. »Nimm die Brosche, Herrin!«
Sie schüttelte den Kopf. »Er wird sterben.«
»Ja«, gab der Ventrier zu. »Aber er bat mich, dich zu drängen, die Brosche zu nehmen. Es war sein großer Wunsch. Schlag ihm den nicht ab!«
»Ich nehme die Brosche«, sagte sie schwermütig, »doch wenn er stirbt, sterbe ich mit ihm.«
Druss saß in dem nahezu verlassenen Lager und beobachtete den Angriff auf der Mauer. Aus dieser Entfernung wirkten die Angreifer wie Insekten, die winzige Leitern hochschwärmten. Er sah Körper ins Wanken geraten und abstürzen, hörte das Tuten der Schlachthörner und gelegentlich einen hohen Schrei, der den Wind übertönte. Sieben saß neben Druss.
»Das erste Mal, daß ich dich einen Kampf verpassen sehe, Druss. Wirst du im Alter weich?«
Druss antwortete nicht. Seine hellen Augen beobachteten das Kampfgeschehen und den Rauch, der unter der Mauer hervorquoll. Im Tunnel brannten inzwischen das Holz und Gestrüpp, und bald würden die Fundamente der Mauer nachgeben. Als der Rauch dicker wurde, zogen die Angreifer sich zurück und warteten ab.
In der großen Stille, die sich über die Ebene legte, verging die Zeit nur langsam. Der Rauch verdichtete sich; dann löste er sich auf. Nichts geschah.
Druss nahm seine Axt und stand auf. Sieben erhob sich mit ihm. »Es hat nicht geklappt«, meinte der Dichter.
»Warte nur ab«, brummte Druss und marschierte los. Sieben folgte ihm, bis sie zehn Meter vor der Mauer standen. Hier wartete Gorben, umgeben von seinen Offizieren. Niemand sagte etwas.
Eine gezackte Linie, schwarz wie ein Spinnenbein, erschien auf der Mauer, gefolgt von einem hohen, kreischenden Laut. Der Spalt verbreiterte sich, und ein riesiger Steinblock löste sich von einem nahe gelegenen Turm und krachte donnernd auf die Steine vor der Mauer. Druss sah, wie die Verteidiger rückwärts krochen. Ein zweiter Spalt erschien … dann ein dritter. Ein großes Stück der Mauer brach ein; ein hoher Turm lehnte sich nach rechts und stürzte dann auf die zerstörte Mauer, so daß eine ungeheure Staubwolke aufstob. Gorben hielt sich den Mantel vor den Mund und wartete, bis der Staub sich gelegt hatte.
Wo wenige Augenblicke zuvor eine Steinmauer gestanden hatte, lagen jetzt nur noch scharfkantige Trümmer wie die abgebrochenen Zähne eines Riesen.
Die Schlachthörner erklangen. Die schwarze Reihe der Unsterblichen stürmte vorwärts.
Gorben wandte sich an Druss. »Wirst du dich an dem Gemetzel beteiligen?«
Druss schüttelte den Kopf. »Mein Magen eignet sich nicht für so was«, antwortete er.
Der Hof war übersät mit Toten und Blutlachen. Michanek warf einen Blick nach rechts, wo sein Bruder Narin auf dem Rücken lag. Eine Lanze ragte aus seiner Brust, und seine blicklosen Augen starrten
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