Die Drenai-Saga 6 - Druss-Die Legende
dieses Röhrchen in den Hals einführen und ihr den Trank durch den Trichter einflößen. Es ist eine ziemlich heikle Angelegenheit; denn ich möchte nicht, daß etwas in ihre Lungen gerät. Und es wäre ziemlich schwierig für mich, das mit einer gebrochenen Hand richtig zu machen.«
Druss ließ ihn los und beobachtete in stiller Qual, wie das Röhrchen in Rowenas Kehle geschoben wurde. Shalitar hielt den Trichter fest und befahl Eskodas zu gießen. Als die Hälfte des Kruginhalts verschwunden war, kniff Shalitar das Röhrchen zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und zog es heraus. Er kniete sich neben das Bett und preßte sein Ohr auf Rowenas Brust.
»Das Herz schlägt sehr langsam«, sagte er, »und schwach. Vor einem Jahr habe ich sie wegen der Pest behandelt. Sie wäre fast gestorben; aber die Krankheit hat ihre Spuren hinterlassen. Das Herz ist nicht kräftig.« Er wandte sich an die Männer. »Laßt mich jetzt allein. Ich muß ihren Kreislauf kräftigen, und dazu muß ich ihr Beine, Arme und Rücken mit Öl massieren.«
»Ich gehe nicht«, sagte Druss.
»Mein Herr, diese Dame ist die Witwe Michaneks. Sie ist hier sehr beliebt – obwohl sie mit einem Naashaniter verheiratet war. Es gehört sich nicht, daß ein Mann sie nackt sieht – und jeder Mann, der ihr Scham verursacht, wird den Tag nicht überleben.«
»Ich bin ihr Ehemann«, zischte Druss. »Die anderen können gehen. Ich bleibe.«
Shalitar rieb sich das Kinn, sah aber aus, als wolle er nicht weiter streiten. Der Priester von Pashtar Sen berührte den Arzt am Arm. »Es ist eine lange Geschichte, mein Freund, aber er sagt die Wahrheit. Und jetzt tu dein Bestes.«
»Mein Bestes ist möglicherweise nicht gut genug«, murmelte Shalitar.
Drei Tage vergingen. Druss aß nur wenig und schlief neben dem Bett. Rowenas Zustand änderte sich nicht, und Shalitar wurde immer verzagter. Am Morgen des vierten Tages kam der Priester von Pashtar Sen wieder.
»Das Gift hat ihren Körper verlassen«, sagte Shalitar, »aber sie wacht trotzdem nicht auf.«
Der Priester nickte verstehend. »Als ich zuerst herkam – und als sie ins Koma fiel –, berührte ich ihren Geist. Sie floh vor dem Leben. Sie hatte keinen Lebenswillen mehr.«
»Wieso?« fragte Druss. »Wieso sollte sie sterben wollen?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Sie ist eine sanfte Seele. Erst liebte sie dich – damals in eurem Land –, und trug diese Liebe als etwas Reines mit sich in einer trüben Welt. Da sie wußte, daß du kommen würdest, war sie bereit zu warten. Ihr Talent wuchs erstaunlich rasch und überwältigte sie. Shalitar und ein paar andere retteten ihr das Leben, indem sie die Pfade dieses Talents verschlossen; aber dabei nahmen sie ihr auch die Erinnerungen. Und so erwachte sie hier, im Hause Michaneks. Er war ein guter Mann, Druss, und er liebte sie – so wie du sie liebst. Er pflegte sie gesund und gewann ihr Herz. Aber er erzählte ihr nicht das größte Geheimnis – daß sie als Seherin seinen Tod vorausgesagt hatte, auf den Tag genau ein Jahr nach seiner Hochzeit. Mehrere Jahre lebten sie zusammen; dann wurde sie Opfer der Pest. Während ihrer Krankheit und – wie ich schon sagte – ohne etwas von ihrem Leben als Seherin zu wissen, fragte sie Michanek, warum er sie nie geheiratet hatte. In seiner Angst um sie glaubte er, daß eine Eheschließung sie retten würde. Vielleicht hatte er recht. Und jetzt kommen wir zur Eroberung von Resha. Michanek hat ihr ein Geschenk hinterlassen – dieses Geschenk«, sagte er und reichte Druss die Brosche.
Druss nahm den zierlichen Gegenstand in seine riesige Hand und schloß seine Finger darum. »Ich habe diese Brosche gefertigt«, sagte er. »Das scheint ein ganzes Leben her zu sein.«
»Dies war der Schlüssel, von dem Michanek wußte, daß er ihre Erinnerungen wecken würde. Er dachte, daß die Rückkehr der Erinnerung ihr helfen würde, ihren Kummer über seinen Tod zu lindern. Er glaubte, daß sie eine sichere Zukunft hätte, wenn sie sich an dich erinnerte und du sie noch immer liebtest. Doch seine Schlüsse waren falsch; denn als sie die Brosche berührte, empfand sie vor allem ein schreckliches Schuldgefühl. Sie hatte Michanek gebeten, sie zu heiraten und damit – wie sie es sah – seinen Tod besiegelt. Sie hatte dich, Druss, im Haus von Kabuchek gesehen und war davongelaufen, aus Angst, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren, das ihr neues Glück zerstören könnte. In diesem einen Augenblick betrachtete sie
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