Die Drenai-Saga 7 - Die Augen von Alchazzar
Er rieb sich die Augen, dann schaute er wieder hin. An den Haken an der Wand hing die Rüstung von Oshikai Dämonstod – die Brustplatte mit den einhundertundzehn Blättern aus gehämmertem Gold, der geflügelte Helm aus schwarzem Eisen, verziert mit silbernen Runen, und die schreckliche Axt Kolmisai. Talisman sah sich langsam in dem Raum um. Schöne Wandbehänge schmückten die Wände. Jeder zeigte ein Ereignis aus dem Leben Oshikais – die Jagd auf den schwarzen Löwen, die Zerstörung von Chien-Po, die Flucht über die Berge, die Hochzeit mit Shul-sen. Letzterer war besonders eindrucksvoll: eine Schar von Raben trug die Braut zum Altar, während Oshikai wartete, flankiert von zwei Dämonen.
Talisman blinzelte und versuchte, seine Konzentration gegen die Wellen der Betäubungsmittel aufrechtzuerhalten, die durch sein Blut brandeten. Aus dem dritten Beutel nahm er einen goldenen Ring, aus dem vierten ein Fingerknöchelchen. Wie Nosta Khan ihm befohlen hatte, steckte er den Ring auf den Knochen und legte ihn vor sich hin. Mit dem Messer ritzte er sich den Unterarm auf, so daß etwas Blut auf den Knochen und den Ring fiel. »Ich rufe Euch, Herr des Krieges«, sagte er. »Ich erbitte demütig Eure Anwesenheit.«
Zuerst war da gar nichts, dann schien ein kühler Wind durch den Raum zu wehen, obwohl keine Staubflocke sich rührte. Eine Gestalt begann sich über dem Sarg zu materialisieren. Die goldene Rüstung schloß sich darum, die Axt schwebte heran, um in ihrer rechten Hand zu landen. Talisman vergaß fast zu atmen, als der Geist herabstieg und sich mit gekreuzten Beinen vor ihm niederließ. Obwohl er breite Schultern hatte, war Oshikai nicht annähernd so groß, wie Talisman erwartet hatte. Sein Gesicht war flach und hart, die Nase breit, mit weiten Löchern. Er trug sein Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden, und er hatte weder Kinn- noch Schnurrbart. Seine violetten Augen glühten vor Macht, und er strahlte Willenskraft aus.
»Wer ruft Oshikai?« fragte die durchscheinende Gestalt.
»Ich, Talisman von den Nadir.«
»Bringst du mir Neuigkeiten von Shul-sen?«
Die Frage kam unerwartet, und Talisman stockte. »Ich … ich weiß nichts von ihr, Herr, außer Legenden und Geschichten. Manche behaupten, sie starb kurz nach dir, andere, daß sie die Meere überquerte, um in einer Welt ohne Finsternis zu leben.«
»Ich habe die Täler des Geistes, die Täler der Verdammten, die Felder der Helden, die Hallen der Mächtigen nach ihr durchsucht. Ich bin endlos durch die Leere gewandert. Ich kann sie nicht finden.«
»Ich bin hier, Herr, um deine Träume wahr zu machen«, sagte Talisman, wie Nosta Khan es befohlen hatte. Oshikai schien ihn nicht zu hören. »Die Nadir müssen sich vereinen«, fuhr Talisman fort. »Dafür müssen wir den Anführer mit den violetten Augen finden, aber wir wissen nicht, wo wir suchen sollen.«
Oshikais Geist blickte Talisman an, dann seufzte er. »Er wird gefunden werden, wenn die Augen von Alchazzar an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren. Die Magie wird wieder in das Land strömen, und dann wird er enthüllt werden.«
»Ich suche die Augen, Herr«, sagte Talisman. »Es heißt, sie seien hier verborgen. Ist das wahr?«
»Ja, das ist wahr. Sie sind ganz in der Nähe, Talisman von den Nadir. Aber es ist dir nicht bestimmt, sie zu finden.«
»Wem dann, Herr?«
»Ein Fremder wird sie nehmen. Mehr will ich dir nicht sagen.«
»Und der Einiger, Herr. Kannst du mir nicht seinen Namen nennen?«
»Sein Name ist Ulric. Jetzt muß ich gehen. Ich muß weitersuchen.«
»Warum suchst du, Herr? Gibt es denn kein Paradies für dich?«
Der Geist starrte ihn an. »Was sollte das für ein Paradies sein ohne Shul-sen? Den Tod konnte ich ertragen, aber nicht die Trennung unserer Seelen. Ich werde sie finden, und wenn es ein Dutzend Ewigkeiten dauert. Lebewohl, Talisman von den Nadir.«
Ehe Talisman noch etwas sagen konnte, war die Gestalt verschwunden. Der junge Nadirkrieger erhob sich unsicher und ging zur Tür.
Gorkai wartete im Mondschein. »Was ist dort drinnen geschehen? Ich hörte dich sprechen, aber es antwortete niemand.«
»Er kam, aber er konnte mir nicht helfen. Er war eine verzweifelte Seele, auf der Suche nach seiner Frau.«
»Die Hexe, Shul-sen. Man sagt, sie wurde lebendig verbrannt, ihre Asche in alle vier Winde zerstreut und ihr Geist durch Zauberei vernichtet.«
»Diese Geschichte habe ich nie gehört«, sagte Talisman. »Wir haben unter anderem gelernt,
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