Die Drenai-Saga 7 - Die Augen von Alchazzar
Nadirjungen rannten herbei und knüpften die Seile los, mit denen Okai festgebunden war. Noch als er in ihre Arme sank, drehte er sich um, um zu sehen, wer die Peitsche geschwungen hatte, und sein Herz sank. Es war Dalsh-chin, vom Stamme der Flinken Ponys.
Seine Freunde trugen ihn halb zur Krankenstation, wo ein Pfleger Salbe auf seinen Rücken strich und eine tiefere Wunde an der Schulter mit drei Stichen nähte. Dalsh-chin trat ein und stellte sich vor ihn. »Gut gemacht, Okai«, sagte er auf Nadir. »Mein Herz schwoll vor Stolz auf dich.«
»Warum hast du mich dann vor den
gajin
zum Schreien gebracht?«
»Weil er noch fünf Hiebe mehr befohlen hätte, wenn du nicht geschrieen hättest und noch mal fünf. Es war eine Willensprobe, und eine, die dich leicht hätte umbringen können.«
»Hört auf, in dieser dreckigen Sprache zu reden«, befahl der Pfleger. »Ihr wißt, daß es gegen die Regeln verstößt, und ich dulde das nicht!«
Dalsh-chin nickte, dann legte er Okai eine Hand auf den Kopf. »Du hast ein tapferes Herz, Junge«, sagte er in der Sprache der Südländer. Damit drehte er sich um und verließ den Raum.
»Zwanzig Hiebe, weil du dich selbst verteidigt hast«, sagte sein engster Freund Zhen-shi. »Das war nicht gerecht.«
»Von den
gajin
kannst du keine Gerechtigkeit erwarten«, erwiderte Okai. »Nur Schmerz.«
»Sie haben aufgehört, mir weh zu tun«, sagte Zhen-shi. »Vielleicht wird es ab jetzt für uns alle besser.«
Okai sagte nichts, denn er wußte, daß sie aufgehört hatten, seinem Freund weh zu tun, weil Zhen-shi für sie Botengänge übernahm, ihre Stiefel putzte, sich verbeugte und katzbuckelte, handelte wie ein Sklave. Wenn sie ihn verspotteten, lächelte er und senkte den Kopf. Es machte Okai traurig, aber es gab praktisch nichts, was er tun konnte. Jeder Mann mußte seine eigene Wahl treffen. Er hatte beschlossen, ihnen in jeder Weise zu widerstehen und trotzdem alles zu lernen, was sie ihm beibringen konnten. Zhen-shi hatte nicht die Kraft für diesen Weg, er war weich und für einen Nadirjungen bemerkenswert sanft.
Nach einer kurzen Ruhepause in der Krankenstation ging Okai ohne Hilfe in das Zimmer, das er mit Lin-tse teilte. Lin-tse stammte von den Himmelsreitern und war größer als die meisten jungen Nadirburschen. Sein Gesicht war eckig, und die Augen standen kaum schräg. Es ging das Gerücht, daß er
gajin-
Blut in den Adern hatte, aber niemand wagte es, ihm das offen ins Gesicht zu sagen. Lin-tse war aufbrausend und vergaß kein Unrecht, das ihm zugefügt worden war. Er stand auf, als Okai eintrat. »Ich habe dir etwas zu essen und zu trinken geholt, Okai«, sagte er. »Und etwas Berghonig für die Wunden auf deinem Rücken.«
»Ich danke dir, Bruder«, sagte Okai förmlich.
»Unsere Stämme liegen miteinander im Krieg«, entgegnete Lin-tse, »deshalb können wir keine Brüder sein. Aber ich achte deinen Mut.« Er verbeugte sich, dann widmete er sich wieder seinen Studien.
Okai legte sich bäuchlings auf die schmale Pritsche und versuchte, nicht an den heißen Schmerz zu denken, der in seinem malträtierten Rücken wütete. »Unsere Stämme führen
jetzt
miteinander Krieg«, sagte er, »aber eines Tages werden wir Brüder sein, und die Nadir werden über diese
gajin
herfallen und sie vom Angesicht der Erde vertreiben.«
»Möge es so sein«, antwortete Lin-tse. »Du hast morgen eine Prüfung, oder?«
»Ja. Die Rolle der Kavallerie bei Strafexpeditionen.«
»Dann werde ich dich abfragen. Das lenkt dich von den Schmerzen ab.«
Talisman erwachte kurz vor Tagesanbruch. Zhusai schlief weiter, als er lautlos aufstand und das Zimmer verließ. Im Hof unten pumpte der blinde Nadirpriester Wasser aus dem Brunnen. Im fahlen Licht des frühen morgens sah der Mann jünger aus, sein Gesicht war blaß und ernst. »Ich nehme an, du hast gut geschlafen, Talisman?« fragte er, als der Nadir zu ihm kam.
»Gut genug.«
»Und waren die Träume dieselben?«
»Meine Träume gehen nur mich etwas an, alter Mann, und wenn du am Leben bleiben willst, um deine Geschichte fertig zu schreiben, solltest du dir das besser merken.«
Der Priester stellte den Eimer ab und setzte sich auf den Brunnenrand. Seine hellen opalfarbenen Augen glitzerten im verblassenden Mondlicht. »Träume sind niemals geheim, Talisman, wie sehr wir uns auch bemühen, sie zu schützen. Sie sind wie das Bedauern, suchen immer das Licht, werden immer geteilt. Und sie haben eine Bedeutung, die weit über dein
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