Die dritte Jungfrau
was das Durchforsten von Dateien betrifft, noch was den Außendienst angeht.«
»Und wie machen wir dann weiter?« fragte Gardon, der noch ein wenig Hoffnung hatte.
»Geistig«, bemerkte Estalère und mischte sich unerschrocken ins Gerangel.
»Willst etwa du, Estalère, das Ganze geistig lösen, oder was?« fragte Mordent.
»Diejenigen, die den Fall abgeben wollen, tun es«, fing Adamsberg im selben matten Ton wieder an. »Im Gegenteil. Wir brauchen Leute für den Todesfall in der Rue de Miromesnil und die Schlägerei in Alésia. Und eine Untersuchung zu der Massenvergiftung im Altersheim von Auteuil. Wir sind mit allen Vorgängen in Verzug.«
»Ich glaube, Justin hat nicht ganz unrecht«, sagte Mordent in gemäßigtem Ton. »Ich glaube, wir sind auf der falschen Fährte, Kommissar. Wenn man das Ganze mal betrachtet, fing doch im Grunde alles bloß mit einen Kater an, der von ein paar Kindern gequält wurde.«
»Mit einem Penisknochen, der einem Kater entnommen wurde«, sagte Kernorkian zur Verteidigung.
»Ich glaube nicht an die dritte Jungfrau«, sagte Mordent.
»Ich glaube nicht mal an die erste«, sagte Justin mit düsterer Stimme.
»Ach, Scheiße«, sagte Lamarre. »Tot ist sie ja wohl, die Élisabeth.«
»Ich rede von der Jungfrau Maria.«
»Ich gehe jetzt«, sagte Adamsberg und zog seine Jacke über. »Aber irgendwo gibt es die dritte Jungfrau, sie trinkt ihren kleinen Kaffee, und ich werde sie nicht sterben lassen.«
»Was für einen kleinen Kaffee?« fragte Estalère, als Adamsberg den Konzilsaal bereits verlassen hatte.
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Mordent. »Es ist seine Art zu sagen, daß sie ihr Leben lebt.«
38
Francine haßte das ganze alte Zeug aus der Vergangenheit, dieses ewig dreckige, irgendwie schiefe Zeug. Ruhe fand sie nur in der makellosen Welt der Apotheke, in der sie saubermachte, wischte, aufräumte. Doch sie kehrte nicht gern in das alte elterliche Haus zurück, dieses ewig dreckige, irgendwie schiefe Haus. Zu seinen Lebzeiten hätte Honoré Bidault nicht geduldet, daß sich jemand daran vergriff, doch was machte das jetzt noch aus? Seit zwei Jahren trug Francine sich mit dem Gedanken, wegzuziehen, in eine neue Wohnung in der Stadt, weit weg von dem alten Landbauernhof. Sie würde alles hierlassen, die Krüge, die verbeulten Kochtöpfe, die hohen Schränke, alles.
Zwanzig Uhr dreißig, das war der beste Moment. Sie hatte das Geschirr abgewaschen, den Müllbeutel zweimal zugebunden und auf die Türschwelle getragen. Mülleimer ziehen Unmengen von Tierchen an, besser, man ließ sie nachts nicht im Haus. Sie überprüfte den Zustand der Küche, immer in der Angst, eine Maus zu entdecken oder irgendein Insekt, das herumkroch oder -flog, eine Spinne, eine Larve, einen Siebenschläfer, das Haus war voll von diesem Unratsgefleuche, das ohne Vorwarnung ein und aus ging; noch dazu gab es keine Möglichkeit, es loszuwerden, ganz einfach wegen dem Feld ringsherum, dem Dachboden oben und dem Keller unten. Der einzige Bunker, aus dem es ihr gelungen war die Eindringlinge beinahe vollkommen zu verdrängen, war ihr Zimmer. Sie hatte Monate damit zugebracht, den Kamin zuzumauern und alle Risse in den Wänden mit Zement zu verschmieren, auch die Spalten unter den Fenstern und Türen hatte sie verstopft und zuletzt noch ihr Bett auf Ziegelsteine gestellt. Lieber verzichtete sie aufs Lüften, als daß sie irgendwas in dieses Zimmer hereinkrabbeln ließ, während sie schlief. Die Klopfkäfer jedoch, die sich die ganze Nacht lang ins Holz der alten Balken bohrten, ließen sich einfach nicht beseitigen. Jeden Abend betrachtete Francine die kleinen Löcher über ihrem Bett und fürchtete, den Kopf eines Klopfkäfers zu Gesicht zu bekommen. Sie wußte überhaupt nicht, wie diese verfluchten Klopfkäfer aussahen: wie ein Wurm? ein Tausendfüßer? ein Ohrwurm? Und jeden Morgen mußte sie angeekelt das Holzmehl wegputzen, der auf ihre Bettdecke gerieselt war.
Francine goß den heißen Kaffee in eine große Tasse, gab ein Stück Zucker und zwei Verschlußkappen Rum dazu. Der beste Moment. Anschließend nahm sie ihre Tasse zusammen mit dem Fläschchen Rum mit in ihr Zimmer und sah sich zwei Filme hintereinander an. Ihre Sammlung von achthundertundzwölf Filmen, die sie beschriftet und sortiert hatte, stand im zweiten Zimmer, dem ihres Vaters, und früher oder später würde die Feuchtigkeit sie ramponieren. Daß sie den Hof verlassen wollte, hatte sie an dem Tag entschieden, an dem
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