Die dritte Jungfrau
keine andere Lösung, als diesem Kreuz in dem Herzen zu folgen. Ich möchte, daß ihr mir Bescheid gebt, sobald ein weiterer Hirsch massakriert worden ist.«
Eine bleierne Stille trat ein, eine kompakte Stille, wie nur Normannen sie schaffen und ertragen können. Angelbert goß die zweite Runde ein, wobei er den Hals der Flasche gegen jedes Glas klingen ließ.
»Tja, ist schon passiert«, sagte Robert.
Wieder trat Schweigen ein, und jeder trank einen Schluck, außer Adamsberg, der mit betroffener Miene Robert ansah.
»Wann?« fragte er.
»Vor nicht mal sechs Tagen.«
»Wieso hast du mich nicht angerufen?«
»Es sah nicht so aus, als würde es dich noch groß interessieren«, sagte Robert sauer. »Du hattest ja nur Oswalds Schatten im Kopf.«
»Wo ist es passiert?«
»Im Bosc des Tourelles.«
»Getötet wie die anderen?«
»Ganz genauso. Das Herz daneben.«
»Welche Dörfer liegen in unmittelbarer Nähe?«
»Campenille, Troimare und Louvelot. Noch weiter dann kommt man nach Longeney auf der einen Seite oder nach Coucy auf der anderen. Kannst du dir aussuchen.«
»Und seither ist keine Frau verunglückt?«
»Nein.«
Adamsberg atmete tief durch und trank einen Schluck.
»Doch, die alte Yvonne, die auf der alten Brücke der Länge nach hingeschlagen ist«, sagte Hilaire.
»Tot?«
»Bei dir müssen immer gleich alle sterben«, sagte Robert.
»Den Oberschenkelknochen hat sie sich gebrochen.«
»Kannst du mich morgen mitnehmen?«
»Zu Yvonne?«
»Zu dem Hirsch.«
»Wir haben ihn schon beerdigt.«
»Wer hat das Geweih?«
»Niemand. Er hatte es schon abgeworfen.«
»Ich möchte trotzdem die Stelle sehen.«
»Das läßt sich machen«, sagte Robert und streckte sein Glas für die dritte und letzte Runde vor. »Wo wirst du schlafen? Im Hotel oder bei Hermance?«
»Es wäre besser, er schläft im Hotel«, meinte Oswald leise.
»Wäre wohl besser«, unterstrich der Unterstreicher.
Und niemand gab eine Erklärung ab, warum man nicht mehr bei Oswalds Schwester unterkommen konnte.
55
Während seine Beamten das Gebiet des Bosc des Tourelles absuchten, hatte Adamsberg seinen Gang durch die Krankenhäuser gemacht. In Bichat hatte er den hinkenden Veyrenc besucht und in Saint-Vincent-de-Paul die schlafende Retancourt. Veyrenc käme am nächsten Tag heraus, und Retancourts Schlaf glich immer mehr einem natürlichen Zustand. Sie erholt sich mit Höchstgeschwindigkeit, hatte Lavoisier gesagt, der sich zum Fall der Mehrzweckgöttin jede Menge Notizen machte. Veyrenc, nachdem er von der Rettung des Lieutenant und vom Kreuz des Hirschs erfahren hatte, äußerte einen Kommentar, den Adamsberg wieder und wieder vor sich hin sprach, während er zu Fuß zur Brigade zurückkehrte.
»Die eine schützt die Kraft vor sichrer Grabesruh,
die andre treibt durch Schwäche ihrem Henker zu.
Eilt euch, ’s ist höchste Zeit. Der Hirsch liegt schon im
Wald.
Wenn ihr nichts tut, wird auch die Jungfrau folgen bald.«
»Francine Bidault, fünfunddreißig Jahre alt«, sagte Mercadet und hielt Adamsberg ihre Karteikarte hin. »Sie wohnt in Clancy, einem Zweihundertseelennest, sieben Kilometer vom Bosc des Tourelles entfernt. Die beiden anderen in Frage kommenden Frauen wohnen vierzehn und neunzehn Kilometer entfernt und jede wiederum näher am Großen Kastanienwäldchen, das weitläufig genug für weitere Hirsche ist. Francine lebt allein, ihr Hof liegt abseits, mehr als achthundert Meter von den Nachbarn entfernt. Über die Umfassungsmauer kommt man mit einem Satz rüber. Das Haus ist alt, die Türen aus dünnem Holz, und die Schlösser lassen sich mit dem Ellbogen aufbrechen.«
»Gut«, sagte Adamsberg. »Arbeitet sie? Hat sie ein Auto?«
»Sie hat einen Halbtagsjob als Putzfrau in einer Apotheke in Évreux. Sie fährt jeden Tag mit dem Überlandbus dorthin, außer am Sonntag. Vermutlich wird der Überfall bei ihr zu Hause stattfinden, zwischen neunzehn Uhr abends und dreizehn Uhr des folgenden Tages, dann nämlich geht sie aus dem Haus.«
»Ist sie Jungfrau? Können wir da sicher sein?«
»Dem Pfarrer aus Otton zufolge, ja. Ein ›Engelchen‹, wie er meint. Hübsch, kindisch, fast ein wenig zurückgeblieben, sagen einige andere. Aber dem Pfarrer zufolge ist sie geistig absolut auf der Höhe. Nur erschreckt sie alles, insbesondere Tiere. Sie ist von ihrem Vater aufgezogen worden, einem Witwer, der sie wie ein Unmensch tyrannisiert hat. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Da wäre noch ein Problem«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher