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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Briefbeschwerer weitergesagt.
    Was die Klärung dieses Punkts anging, verließ man sich ganz auf Commandant Danglard, einerseits, weil er am längsten Adamsbergs Kollege war und zu ihm in einer Beziehung stand, die frei von Scham und Vorsicht war, andererseits weil Danglard sogenannte »Fragen ohne Antwort« nicht ertrug. Fragen ohne Antwort, die sich einfallen ließen, wie Löwenzahn aus dem Humus des Lebens zu sprießen, sich in eine Myriade von Ungewißheiten verwandelten, eine Myriade, die seine Angst nährte, Angst, die sein Leben zerrüttete. Danglard arbeitete unablässig an der Vernichtung solcher Fragen ohne Antwort, genau wie ein Besessener seine Jacke nach Staubkörnchen absucht und sie entfernt. Eine Titanenarbeit, die meistens in eine Sackgasse führte und die Sackgasse in die Ohnmacht. Ohnmacht, die ihn in den Keller der Brigade trieb, in dem wiederum seine Flasche Weißwein stand, welche ihrerseits als einzige imstande war, eine allzu hartnäckige Frage ohne Antwort aufzulösen. Daß Danglard seine Flasche so weit weg versteckt hatte, geschah nicht aus Furcht, Adamsberg könnte sie entdecken, der Kommissar wußte sehr wohl von dieser geheimen Tatsache, fast hätte man meinen können, er höre Stimmen. Doch die Wendeltreppe des Kellers hinunter- und wieder hinaufzusteigen war ihm ganz einfach beschwerlich genug, um den Genuß seines Lösungsmittels auf später zu verschieben. So knabberte er denn geduldig an seinen Zweifeln herum wie auch auf den Enden seiner Bleistifte, an denen er einen Verschleiß wie ein Nagetier hatte.
    Adamsberg entwickelte eine dem Knabbern entgegengesetzte Theorie, indem er davon ausging, daß die Summe der Ungewißheiten, die ein einzelner Mensch auf einmal zu ertragen imstande sei, nicht unendlich groß werden könne und die Obergrenze bei drei bis vier gleichzeitigen Ungewißheiten liege. Was nicht hieß, daß es keine weiteren gab, sondern daß nur drei bis vier in einem menschlichen Gehirn in Umlauf sein konnten. Daß also Danglards Manie, sie ausrotten zu wollen, ihm rein gar nichts nützte, denn sobald er zwei abgetötet hatte, wurde der Platz sofort für zwei gänzlich neue Fragen frei, auf die er nie gekommen wäre, wenn er die Weisheit besessen hätte, die alten einfach zu ertragen.
    Danglard lehnte diese Hypothese ab. Er hatte Adamsberg in Verdacht, die Ungewißheit bis zur Erstarrung zu lieben. Sie so sehr zu lieben, daß er sie von sich aus schuf, daß er die klarsten Aussichten vernebelte, rein aus dem Vergnügen, sich verantwortungslos darin zu verlieren, wie wenn er im Regen spazierenging. Wenn man etwas nicht wußte, wenn man überhaupt nichts wußte, wozu sich dann aufregen?
    Das ständige Ringen zwischen Danglards klarem »Warum?« und dem unbekümmerten »Ich weiß nicht« des Kommissars bestimmte den Rhythmus bei den Ermittlungen der Brigade. Keiner versuchte das Wesen dieses erbitterten Kampfes zwischen Schärfe und Ungenauigkeit zu verstehen, aber jeder schloß sich der Geisteshaltung des einen oder des anderen an. Die einen, die Positivisten, meinten, Adamsberg zöge die Ermittlungen in die Länge, treidelte sie sehnsuchtsvoll durch Nebelschwaden, wobei er seine verirrten Mitarbeiter ohne Marschbefehl und Anweisungen hinter sich ließ. Die anderen, die Wolkenschaufler – so genannt in Erinnerung an eine traumatische Reise der Brigade nach Quebec {2} –, waren der Ansicht, daß die Ergebnisse des Kommissars genügten, um vor sich hin tuckernde Ermittlungen zu rechtfertigen, auch wenn sie selbst das Wesentliche der Methode nicht begriffen. Je nach Laune, je nachdem, ob die Zufälligkeiten des Augenblicks mehr die Nervosität oder mehr die Langmut förderten, konnte man an einem Morgen Positivist sein und am nächsten Wolkenschaufler und umgekehrt. Nur Danglard und Adamsberg, die beiden gegensätzlichen Titelverteidiger, veränderten niemals ihre Position.
    Unter den harmlosen Fragen ohne Antwort glänzte noch immer der Ehering am Finger des Kommissars. Danglard wählte diesen Regentag, um Adamsberg schlicht mit einem Blick auf den Ring zu befragen. Der Kommissar zog seine durchnäßte Jacke aus, setzte sich schräg hin und streckte seine Hand aus. Diese Hand, zu groß für seinen Körper, an deren Gelenk schwer zwei Uhren hingen und die nun außerdem mit diesem goldenen Ring geziert war, paßte nicht zu seiner übrigen Kleidung, die er bis auf das Notdürftigste vernachlässigte. Man hätte sie für die geschmückte Hand eines einstigen Adligen halten

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