Die dritte Sünde (German Edition)
Platzwunden oder schlimme Schnitte kamen öfter einmal vor auf dem Gut, wo die Arbeit nicht immer ungefährlich war, und man wusste sich in solchen Situationen selbst zu behelfen. Kein Grund, aus dem Häuschen zu geraten. Dass die junge Frau allerdings nach wie vor ohnmächtig war, war bedenklich und bereitete auch Mrs Reed Sorge. Hoffentlich hatte sie keinen ernsten Schaden genommen. Schnell kramte sie einen Faden und eine gebogene Nadel, die sie auch zum Zusammennähen von gefüllten Wachtelbrüstchen oder anderem zarten Geflügel verwendete, aus einer Schublade, goss dann etwas Kräuterschnaps auf ein sauberes Tuch, tupfte das Blut von der Wunde und setzte mit geübter Hand ein paar schnelle Stiche. Mrs Branagh sah mit verhaltenem Widerwillen dabei zu. Die derbe Sachlichkeit der Köchin war ihre Sache nicht. Doch als Cathy durch die Schmerzen, die das Nähen hervorrief, sich in ihrer Ohnmacht zu regen begann, fasste sie schnell nach der Hand der jungen Frau, für die sie in den letzten Wochen ein gewisses Gefühl der Verantwortung entwickelt hatte. Mrs Reed legte noch einen mit Alkohol getränkten kleinen Leinenlappen auf die Wunde und wand dann ein sauberes Tuch um den Kopf der Verletzten. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Wunden dann schneller heilten und sich auch nicht entzündeten. [24] Da kam Cathy wieder zu sich. Sie stöhnte auf, drehte sich zur Seite und übergab sich. Geistesgegenwärtig hielt ihr Mrs Branagh eine Schüssel hin, die auf dem Tisch stand. Die Köchin zog angesichts des bedenklich schlechten Zustands der jungen Frau besorgt die Augenbrauen in die Höhe. »Das sieht nicht gut aus«, meinte sie. »Wir sollten sie in ihr Bett schaffen.« Mrs Branagh nickte zustimmend, ebenfalls höchst besorgt, hielt die Köchin aber noch zurück, als diese Cathy aufhelfen wollte.
»Cathy?«, sprach sie die junge Frau sanft, aber eindringlich an. »Cathy, kannst du mir sagen, was geschehen ist?« Angespannt wartete sie auf eine Antwort. Sie kam nicht sofort, dann aber brachte Cathy stammelnd ein paar Worte hervor: »Isobel … so wütend … ich weiß nicht …« Ihre linke Hand griff hilflos ins Leere, als suche sie Halt oder wolle etwas abwehren. Ihr Blick flackerte unstet. »… Ich weiß nicht, warum …« Die beiden älteren Frauen tauschten entsetzte Blicke. War es möglich, dass die neue Hausherrin ihre Zofe und frühere Spielgefährtin in einem Anfall ihres berüchtigten Zorns niedergeschlagen und in solch inakzeptabler Weise zugerichtet hatte? Mrs Branagh sprang die Empörung aus den Augen. Das ging nun wirklich zu weit, viel zu weit! Sie würde das nicht weiter dulden.
Doch da drängten sich die Mägde in die Küche, die Mrs Reed zuvor, um in Ruhe ihre Besprechung mit Mrs Branagh abhalten zu können, zum Bohnenpflücken in den Küchengarten geschickt hatte. Sie hatten die aufregenden Neuigkeiten von einem der Lakaien erfahren, dem Thomas kopfschüttelnd berichtet hatte, was geschehen war. Thomas hatte die junge Hausherrin unversehrt und in demonstrativem Erstaunen ob seiner Besorgnis in ihren Räumen vorgefunden. Nein, es sei nichts, es sei eben zu einer kleinen Auseinandersetzung gekommen, nichts von Belang, hatte sie auf seine verdutzten Fragen bezüglich des Vorgefallenen in betonter Sorglosigkeit geantwortet. Thomas hatte sich daraufhin wegen seines unverschämten Eindringens in die Privaträume der Hausherrin entschuldigt und sich zurückgezogen. Hatte die junge Mrs Havisham völlig den Verstand verloren? Wie konnte sie sich so an ihrer Zofe vergreifen? Das war wirklich unerhört, obwohl man ja von der Tochter Mr de Burghs im Laufe der Jahre schon einiges gewohnt war. Was wohl zwischen der Herrin und ihrer Zofe vorgefallen sein mochte?
Diese spannende Frage beschäftigte in Windeseile das gesamte Hauspersonal. Schließlich empfand man den Angriff auf eine Angehörige der Dienerschaft, die Cathy als Mrs Havishams Zofe nun einmal war, auch als einen Angriff auf den gesamten Hausstand.
Cathy bekam von alledem nichts mehr mit. Sie war von den Mägden auf die bärbeißige Anordnung von Mrs Reed hin, die sich jede Störung der Unglücklichen ausdrücklich verbat, in ihre Kammer verbracht worden und lag nun im Halbdämmer in ihrem Bett, gequält von hämmernden Kopfschmerzen und heftigem Schwindel, aber dankbar, dass man sie wenigstens nicht weiter mit Fragen bedrängte.
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»Hast du es schon gehört, Aaron?« Emily schaute über die Wandung der Pferdebox, die er gerade verbissen
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