Die dritte Sünde (German Edition)
Leute wissen, dass du fast genauso lange auf Whitefell lebst. Das wird ihnen das Maul stopfen. Immerhin ist das auch für dich eine akzeptable Regelung. Du kannst dann wieder so leben, wie du es gewohnt bist, und musst dich nicht dauernd im Bett verstecken.« Sie richtete einen abfälligen Blick auf Cathy. »Ich erwarte selbstverständlich von dir, dass du dieses Angebot annimmst. Aaron wird in vier Tagen das Aufgebot bestellt haben. Dann könnt ihr heiraten und umziehen. Ich werde euch einige Geldmittel vorstrecken, damit ihr über den Winter kommt.« Sie lächelte süffisant. »Schließlich möchte ich nicht, dass mein Liebster hungert. Ach … aber dass wir uns richtig verstehen«, fügte sie an, erhob sich und ließ die geflochtene Spitze der Reitgerte spielerisch langsam über die weiße Narbe an Cathys Stirn gleiten, »Aaron zu heiraten bedeutet beileibe nicht, dass du auch das Bett mit ihm teilen wirst. Ich rate dir, das auf alle Fälle zu unterlassen.« Die Peitsche wanderte plötzlich mit schmerzhaftem Druck zu Cathys Kinn. Die wagte kaum zu atmen. »Aaron gehört mir! Merk dir das! Solltest du meinen, diesem guten Rat zuwiderhandeln zu müssen oder Aaron gar etwas von unserer kleinen Abmachung zu berichten, dann wirst du das bitter bereuen … oder vielmehr dein kleiner Bruder.« Abrupt ließ sie die Peitsche sinken und wandte sich zum Gehen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um. »Ich hoffe doch, dass wir uns verstanden haben, Cathy. Ich wünsche dir eine baldige Genesung«, flötete sie und verließ schwungvoll die enge Kammer.
Whitefell House, Wiltshire, 10. November 1838
Kapitel 51
In der vom sanften Licht der Stalllaternen erleuchteten Scheune herrschte schon reges Treiben. Alle Angestellten und Pächter Whitefells mit deren Familien hatten sich trotz des kalten und trüben Wetters an diesem Samstagabend eingefunden, um endlich das ersehnte Fest zu feiern, zu essen und wieder einmal ausgiebig zu tanzen. Bridges, der Stallmeister der Nutztierställe, hatte seine Fiedel ausgepackt und malträtierte das verschrammte Instrument erbarmungslos und mit deutlich mehr Enthusiasmus als Können. Den Tänzern war es gleich. Hauptsache, der herzhafte Rhythmus der ländlichen Musik drang bis in ihre Beine. Jeder hatte, so es irgend möglich war, auch etwas zu essen oder zu trinken mitgebracht, das meiste stammte aber aus der Küche Whitefells. Mrs Branagh hatte – kraft ihrer unbestreitbar vorhandenen Autorität – der Herrschaft schließlich einiges abringen können. Ein neuer Mann war auch auf dem Fest zugegen: Mr Timothy Gruber, der neue Gutsverwalter, den Mr Havisham im direkten Nachgang des Gesprächs mit Mrs Branagh vor einigen Tagen vom Gut eines ihm bekannten Geschäftsmannes nahe Reading abgeworben hatte. Wenn er etwas als notwendig erkannt hatte, zögerte Mr Havisham nie, einen Entschluss in die Tat umzusetzen – eine notwendige Voraussetzung seines überragenden Erfolges.
Mr Gruber war am Nachmittag des vergangenen Tages eingetroffen, hatte sich umgehend mit seinem neuen Arbeitgeber zu einem längeren Gespräch zurückgezogen, dann zwei Zimmer im Ostflügel von Whitefell bezogen und war seitdem, neben den überraschend bekannt gewordenen Hochzeitsabsichten von Aaron Stutter und Cathy Thomson, das beherrschende Gesprächsthema unter den Bewohnern Whitefells. Mr Gruber goss sich noch ein Bier in den tönernen Krug und ließ seinen Blick über die Anwesenden wandern. Er war ein kräftiger, breitschultriger Mann mit dunkelblondem Haar und intelligenten grüngrauen Augen, der seinen seltenen Nachnamen einem deutschen Urgroßvater verdankte, der irgendwann einmal im letzten Jahrhundert in England hängen geblieben war. Möglich, dass von diesem deutschen Urgroßvater, der dem Vernehmen nach Kaufmann gewesen war, sein besonderes Talent zu Organisation und Effektivität stammte. Diese besondere Fähigkeit zur verantwortungsvollen Leitung eines Betriebes hatte ihm nun also die Stelle auf Whitefell zuzüglich eines recht großzügigen Gehalts von vierhundert Pfund im Jahr eingebracht. Eine erfreuliche Karriere für den dreiunddreißigjährigen Abkömmling eines kleinen Händlers deutscher Herkunft. Die Aufgabe reizte ihn aber auch. Ein so großes Gut wie Whitefell, das durchaus einen Namen über die Grenzen Wiltshires hinaus besaß, zu verwalten, war sicher eine Ehre und ein bedeutender Karriereschritt. Seine erste Amtshandlung am Vortag war es gewesen, die Überschreibung der Pacht für die Pennywood
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