Die dritte Sünde (German Edition)
Handgelenk.
»Lass mich!«, schluchzte sie und versuchte, sich seinem festen Griff zu entwinden. Ihre Tränen ließen ihn die zornigen Worte, die ihm auf der Zunge lagen, hinunterschlucken. Er verstand sie einfach nicht. Irritiert ließ er sie schließlich los. Ohne ein Wort der Erklärung oder gar des Dankes wendete sie sich von ihm ab und ging mit gesenktem Kopf zurück an den Platz, an dem sie gestanden hatte, bevor Mr de Burgh den Stall betreten hatte. Selbst jetzt, nach diesem unverständlichen Vorfall, wollte sie offenbar nicht mit ihm sprechen. »Ach, dann mach doch, was du willst!«, zischte er, schüttelte wütend den Kopf und wandte sich ebenfalls ab.
Kapitel 22
Horace Havisham hatte es tatsächlich und allein aus eigener Kraft zu etwas gebracht in den letzten vierzehn oder fünfzehn Jahren. Das ursprüngliche Geschäft mit Luxusgütern in Salisbury hatte er von seinem Vater übernommen. Obwohl Salisbury immer noch der wichtigste Umschlagplatz für landwirtschaftliche Güter und Vieh in ganz Wiltshire war, war es in produktionswirtschaftlicher Hinsicht nicht mehr von so großer Bedeutung wie im letzten Jahrhundert, erfreute sich aber wegen seines besonders pittoresken Ambientes, der relativen Nähe zu London, des bekannten Colleges und vor allem der überaus beeindruckenden Kathedrale, in der überdies die berühmte Magna Carta zu besichtigen war, großer Beliebtheit. Ganze Besucherströme von feinen Herrschaften durchwanderten die schöne alte Stadt, oft mit lockerem Geldbeutel, was ihm als Händler für Luxusgüter natürlich zugutekam. Inzwischen hatte er eine beträchtliche Anzahl der größten Geschäfte in Salisbury aufgekauft oder war zumindest Teilhaber, auch in London, Brighton und Bath unterhielt er Läden mit Luxusgütern. Allein darauf aber beruhte sein in den letzten Jahren horrend angestiegener Gewinn beileibe nicht. Diesen verdankte er eher dem Opiumhandel, in den er bereits vor Jahren mit beträchtlichen, teilweise aufgenommenen Geldmitteln eingestiegen war.
Einer Eingebung folgend hatte er sich trotz der moralischen Bedenken seines Vaters, der ein angesehener und gläubiger Mann und sogar im Kirchenvorstand der Kathedrale war, dazu entschlossen. Wenn man Erfolg haben wollte, war es eben hin und wieder notwendig, die moralischen Bedenken ein wenig hintanzustellen. Als Händler von Luxusgütern, vorwiegend aus den asiatischen Handelsniederlassungen der East-India-Trading-Company, hatte er die Hand am Puls der wirtschaftlichen Entwicklung. Damals war es in Gesamt-Europa zu einer Devisenverknappung gekommen, da die Europäer den begehrten Luxusgütern besonders aus China nichts Adäquates entgegenzusetzen hatten. Aber dann war die Company, zur Verärgerung des chinesischen Herrscherhauses, verstärkt in den Opiumhandel eingestiegen und hatte ihre Gewinne in den letzten fünfzehn Jahren mehr als verfünffacht. Ein überaus lohnendes Geschäft, in dem die Geldgeber der Unternehmung – und damit auch er – ungeheuer prosperierten. Sicher, es gab auch hier Schwierigkeiten. Die Handelsniederlassungen waren inzwischen auf das Hafengebiet von Kanton beschränkt worden, und der chinesische Kaiser mühte sich mit immer neuen lächerlichen Einschränkungen und Regelungen, die Macht der ausländischen Händler, besonders der erfolgreichen Briten, zu beschneiden. Aber die Gier seines Volkes nach dem begehrten Rauschmittel machte alle seine Bemühungen zunichte. Natürlich war er, Havisham, aber auch nicht so dumm, nur auf den Opiumhandel zu setzen. Die Gewinnüberschüsse hatte er sinnvoll gestreut in andere Ladengeschäfte. Vor allem hatte er aber in die aufblühende englische Industrieproduktion investiert, die mit der Verbesserung der Arbeitsleistung durch moderne Maschinen und effiziente Fabrikfertigung von Massengütern einen rasanten Aufschwung nahm. Hier, da war er sich sicher, lag die eigentliche Zukunft des Empires, ja, ganz Europas. Etwas, das der Adel nicht verstand oder nicht wahrhaben wollte, Narren, die sie waren. Einer dieser Narren war mit Sicherheit Mr Francis de Burgh, Herr über das beeindruckende Whitefell, und wenn ihm, Havisham, das Glück weiterhin so hold war, sein zukünftiger Schwiegervater, der ihn am späten Vormittag in abgehetztem und völlig aufgelöstem Zustand aufgesucht hatte und ihm nun im großen Arbeitszimmer, unbequem in seinem Sessel hin und her rutschend, gegenübersaß.
»Nun kennen Sie die ganze Misere, Havisham. Ich hätte auf Sie hören sollen, aber
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