Die dritte Sünde (German Edition)
verblüfft die zornigen Worte, die ihr eben noch auf der Zunge gelegen hatten. Das war also der Grund für die langen Jahre des Schweigens, die zwischen Cathy und ihrer Familie herrschten. Warum hatte sie ihr denn nur nie davon erzählt? Zugegeben, sie hatte sich bisher auch nicht sonderlich dafür interessiert, doch jetzt wurde ihr so einiges klar. Blitzschnell überlegte sie. Das war ja noch besser, als sie je hoffen konnte. Billie Thomson, der mit seinem nutzlosen Arm auch wirklich ein Bild des Jammers abgab und nicht zur Arbeit taugte, gab ihr das perfekte Druckmittel in die Hand. Sie brauchte Cathy nur damit zu drohen, Billie als nutzlosen Esser von Whitefell wegzuschicken und schon würde Cathy alles tun, was Isobel wollte. Dass ihr ihre Familie und das Schicksal ihres Bruders auch nach fünf Jahren nicht gleichgültig waren, bewiesen ihre Tränen zur Genüge. Allerdings durfte Isobel sich jetzt nicht verraten. Es war sinnvoller, dass sie zumindest dem Anschein nach Verständnis für Cathy zeigte, damit diese jetzt gefügig blieb und die lästige Diskussion beendet werden konnte.
»Ach, du Dummerchen! Das hättest du mir doch erzählen können. Ich hätte deinem Vater schon die Meinung gesagt, oder mein Vater hätte es getan. Ich weiß, was wir tun: Du gehst auf alle Fälle zurück, und wenn dein Vater etwas dagegen hat, sagst du, ich habe es befohlen, und wenn du nicht bleiben könntest, müsste auch er sich eine andere Bleibe suchen. Dann wird er sich schon eines Besseren besinnen.« Sie legte Cathy, die nur noch mehr schluchzte und kein Wort mehr herausbrachte, den Arm um die Schultern. »Jetzt hör auf zu weinen, Cathy. Das ist doch gar nicht nötig. Am besten, du gehst dort hinten ins Wäldchen. Da ist es schattig und es gibt auch eine Trinkquelle. Da kannst du dir das Gesicht waschen, dich beruhigen, etwas ausruhen und mir nachher auch etwas Wasser bringen. Ich bin doch ein wenig erhitzt. Da steht ein Schöpfbecher bei der Quelle. Du wirst es schon finden. Ich gehe so lange weiter.« Sie wies unbestimmt gen Süden. »Du weißt schon, wo du mich dann finden kannst.« Sie legte Nachdruck in ihre folgenden Worte und hoffte, dass Cathy verstand, was von ihr erwartet wurde: »Aber lass dir ruhig Zeit, es hat keine Eile!« Tatsächlich ging Cathy nach einigem Zögern und – lästig genug – immer noch in Tränen aufgelöst in Richtung Wäldchen davon. Sie wirkte nun wirklich erschreckend blass, geradezu benommen und taumelte auch ein wenig, als wäre ihr schwindlig, aber das sollte nicht Isobels Sorge sein. Sie hatte jetzt wirklich anderes im Kopf. Zufrieden machte Isobel sich auf den Weg, dem eigentlichen Ziel ihrer Wünsche entgegen.
Fast im Laufschritt legte sie die gute halbe Meile bis zu den Wiesen, am abfallenden und mit Hecken und Büschen durchsetzten Gebiet südlich von Whitefell, zurück. Doch dann begann sie langsamer zu gehen, ja, zu schlendern, damit ihr Atem Zeit hatte, sich zu beruhigen. Aaron Stutter sollte keinesfalls den Eindruck bekommen, dass sie sich beeilt hatte, um zu ihm zu gelangen.
Ihr Herz machte einen Satz, als sie ihn wenige Hundert Yards von ihrem Weg entfernt am anderen Ende des großen Wiesengeländes entdeckte. Er hatte schon ein beträchtliches Stück gemäht und immer noch schwang er die Sense mit kräftigen, gleichmäßigen Bewegungen und legte das hohe Gras einen Schnitt nach dem anderen in regelmäßige Reihen um. Immer wieder setzte er dabei die Sense ab, zog einen Wetzstein aus der Tasche, spuckte darauf und schärfte die Schneidekante mit einer geübten Bewegung, die ein hell sirrendes Geräusch erzeugte. Es gefiel ihr, ihn dabei zu beobachten. Isobel umrundete die Pappeln, die in einer Gruppe dicht am unteren Rand des Hanges standen, und ging dann in Aarons Richtung. Aufmerksam ließ sie den Blick umherschweifen. Er war tatsächlich allein, bis auf den grobgliedrigen Kaltblüter, der angeschirrt an einen Arbeitswagen im Schatten eines Gebüsches zufrieden graste. Keiner der beiden anderen Knechte war zu sehen. Was hatte sie doch für ein Glück! Ob Aaron sie schon bemerkt hatte? Nun galt es als Nächstes, die überaus wichtige Frage zu klären, wer den ersten Schritt tun sollte. Sie war sich nicht sicher, ob er sie schon gesehen hatte, so vertieft, wie er in seine Arbeit war. Sollte sie zu ihm gehen und ihn ansprechen? Nein, das entsprach nicht ihren Vorstellungen! Lieber sollte er ihr hinterherlaufen. Sie beschloss, in einigem Abstand, aber so, dass er sie auf
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