Die dritte Sünde (German Edition)
Untersuchungsgefängnis übersteht –, kommt einem doch der eine oder andere kritische Gedanke zur Rechtsprechung. Ich habe mich deshalb …«
Hier wurde er von seinem Vater, den Baron of Tounton, energisch unterbrochen: »Godfrey, ich denke nicht, dass du die Damen mit diesen äußerst unappetitlichen Geschichten ermüden solltest. Noch dazu beim Essen! Deine seltsame Vorliebe für die Unterschicht ehrt dich zwar als mitfühlenden Menschen, ist aber meines Erachtens völlig unangebracht. Dieser Abschaum gehört mit aller Härte bestraft. Es nimmt ja auch überhand damit. In der Eastside von London kann ein ehrbarer Gentleman es nicht einmal mehr wagen, auf der Straße zu gehen, ohne von verwahrlostem Gesindel und Trunkenbolden angefallen zu werden. Skandalös ist das, sage ich Ihnen!«, wandte er sich auf Bekräftigung hoffend an Lady Branford, die auch beifällig nickte. Da öffnete zum ersten Mal an diesem Abend Mary-Ann den Mund, um sich am Gespräch zu beteiligen: »Drakonische Strafen können den Missständen wohl kaum beikommen, sind diese doch durch die beklagenswerten äußeren Umstände, in denen so viele unserer Mitbürger leben müssen, verursacht.«
»Mary-Ann!« Lady Branford bedachte ihre jüngere Tochter mit einem vernichtenden Blick. »Wirklich niemand an dieser Tafel ist an deinen ungehörigen Ansichten zu diesem Thema interessiert.« Sie wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Lord und Lady Fountley. »Meine Tochter hat sich wohl leider von Schriften einiger Fantasten beeinflussen lassen. Ich hoffe, Sie schreiben ihre unbedachten Äußerungen der Unvernunft der Jugend zu und sehen es ihr nach.«
Lord Fountley lächelte säuerlich, sagte aber nichts dazu. Sein Sohn wandte sich jedoch der von ihm bisher kaum beachteten Mary-Ann mit plötzlich erwachtem Interesse zu. »Sie haben sich mit diversen politischen Schriften beschäftigt, Lady Mary-Ann? Um welche Schriften handelte es sich dabei?«
Die Angesprochene zögerte einen Augenblick, entschied dann aber angesichts des ehrlichen Interesses des jungen Mannes, sich dem erzürnten Blick ihrer Mutter zu widersetzen. »Ich las kürzlich Schriften von Richard Cobden [10] , der sich für den freien Handel einsetzt. Seines Erachtens sind vor allem die hohen Preise für die Grundnahrungsmittel mit Ursache des Elends in der Bevölkerung.«
»Sie haben tatsächlich Richard Cobden gelesen?« Godfrey Fountley reagierte mit erstaunter Bewunderung. »Das hätte ich nicht erwartet, muss ich ehrlich zugeben.«
Lady Branfords Stimme hingegen wirkte inzwischen leicht panisch: »Wissen Sie, Mr Fountley, ich kann mir auch gar nicht erklären, wo sie so etwas herbekommt. Ich habe es natürlich sofort unterbunden, als ich davon hörte.«
Der bisher so tumb erschienene junge Mann wurde plötzlich regelrecht lebhaft. »Aber wieso denn nur, Lady Branford? Meines Erachtens ist dieser Mr Cobden ein überaus gescheiter Kopf. Unsere Regierung täte gut daran, seinen zahlreichen Petitionen Gehör zu schenken. Die Lage der Bevölkerung besonders in den Städten ist prekär, die Menschen hungern, haben keine medizinische Versorgung, die Kinder wachsen unter trostlosen Bedingungen auf … wenn nicht bald etwas geschieht, könnte es wieder zu blutigen Aufständen kommen wie vor einigen Jahren in Manchester – und das womöglich landesweit. Wer sollte es den Menschen verdenken?«
Lady Branford lächelte hilflos. Wie sollte sie diese gefährlichen Gefilde nur wieder verlassen? Derartig aufrührerische Gespräche im Hause des Earls of Branford, eines geachteten Mitgliedes des Oberhauses und Anhänger der konservativen Tories, waren einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Zum Glück war der Earl selbst nicht zu Hause. Nicht auszudenken, wie er reagiert hätte. Mr Fountley schien das Unbehagen seiner Gastgeberin nicht noch verstärken zu wollen und beendete die Diskussion taktvoll, indem er die bevorstehende Krönung und die damit zusammenhängenden Feierlichkeiten zum Thema des allgemeinen Gesprächs machte, was alle überaus dankbar aufgriffen. Aber für den Rest des Abends ruhten seine Augen immer wieder auf Mary-Ann, die ihm ebenfalls den einen oder anderen warmen Blick zukommen ließ.
Hier haben sich zwei verwandte Seelen gefunden, dachte Isobel mit Spott, aber auch mit gewissem Neid. Dass die unansehnliche Mary-Ann das Interesse eines, wenn auch noch so unattraktiven Mannes, der aber immerhin von vornehmer Herkunft war, gewinnen konnte, hätte sie nicht für
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