Die dritte Sünde (German Edition)
gegenständliche Darstellung ist auch nicht das oberste Ziel des Künstlers. Vielmehr will er durch seine Farbwahl eine Empfindung hervorrufen. Erzeugt das Gold bei dir nicht auch eine Ahnung von der Heiligkeit und dem Ernst des Kampfes, während der nahe Heldentod der Kämpfenden durch die schwarzen Wolken am Himmel, die sich mit dem Brandrauch zum Opfer vermischen, deutlich wird?«
»Ja, ja, ich sehe es deutlich!«, stöhnte Isobel. Wenn sie noch ein weiteres Bild von Florence erklärt bekommen würde, müsste sie schreiend das Gebäude verlassen. Da wurden die jungen Damen durch einen dichten Pulk von Bewunderern, die einen blonden, schlaksigen jungen Mann von beachtlicher Körpergröße umlagerten, rüde beiseitegedrängt. Isobel öffnete schon den Mund, um sich zu beschweren, da hörte sie, wie jemand rief: »Mr Thornton, bitte erläutern Sie uns doch auch noch dieses, eines Ihrer neuesten Werke.« Offenbar war die verschmierte Seeschlacht gemeint.
Erstaunt und gespannt schloss sie den Mund wieder. Das war also der berühmte Mr Thornton, von dem Mary-Ann gesprochen und den Florence nur zu offensichtlich so glühend verehrte. Verzweifelt versuchte Isobel, eine bessere Position in dem Gedränge zu ergattern, um den fraglichen jungen Mann näher in Augenschein zu nehmen. Nach mehreren unsanften Knüffen, die ihr den einen oder anderen empörten Blick eintrugen, gelang es ihr schließlich. Sie stand nahe genug bei ihm, um seinen Ausführungen lauschen und ihn dabei auch noch näher inspizieren zu können. Seine Stimme war leise, dennoch aber gut vernehmbar, da er eine deutliche und wohlüberlegte Aussprache hatte. Was er sagte, interessierte sie nicht sonderlich, aber seine dunklen Augen in dem schmalen Gesicht beeindruckten sie. Sie schienen von einem inneren ungezügelten Feuer erleuchtet. Während er sprach, röteten sich vor Eifer seine Wangen und seine Augen sprühten vor Lebendigkeit, doch waren seine Schultern schmal und seine Glieder wirkten zu lang und etwas ungelenk. Henry Thornton war nicht schön genug, um Isobel auch nur annähernd zu gefallen, und doch hatte er etwas Beeindruckendes, ja Anziehendes an sich.
Ob sich Florence in den jungen Künstler verliebt hatte, als dieser in Wilton House weilte? Isobel kicherte bei dem Gedanken. Die dickliche Florence in den Armen dieses charismatischen jungen Mannes war einfach eine zu komische Vorstellung. Zu lächerlich, sich das auch nur annähernd auszumalen. Unwillkürlich sah sie sich nach ihrer Cousine um und war doch überrascht, als sie sah, dass Florence tief errötet war. Ihr Blick hatte sich an Mr Thornton buchstäblich festgesaugt, während der sie noch nicht einmal bemerkt hatte. Es hätte fast Isobels Mitleid erregt, wenn es sie nicht gleichzeitig so überaus amüsiert hätte, dass sie mit ihrem spontanen Verdacht offenbar recht hatte. Lady Florence, Tochter des Earls of Branford, liebte einen Künstler, der zudem aus einfachen Verhältnissen stammte! Isobel konnte sich nun gut vorstellen, was der wahre Grund für das Zerwürfnis des Earls mit seinem Protegé war. Dass dieser seine älteste Tochter einem dahergelaufenen Künstler zur Frau gab oder gar ein Verhältnis geduldet hätte, stand außer Frage.
Da hatte Henry Thornton seine Ausführungen, die die Menge mit begeistertem Beifall honorierte, beendet. Man zerstreute sich langsam wieder, da der junge umschwärmte Liebling der Kunstgemeinde für heute scheinbar nichts mehr von sich geben wollte. Dieser wandte sich um und erblickte Florence, die aus gebührender Entfernung immer noch zu ihm hinüberschaute. Er erstarrte, sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei der Überraschung. Ja, er war so sehr von Florences Anblick in Anspruch genommen, dass er nicht einmal mitbekam, dass ihn ein hartnäckiger Bewunderer erneut ansprach. Unschlüssig machte er einen Schritt auf Florence zu, die ihm einen warnenden Blick zukommen ließ und unmerklich den Kopf schüttelte. Abrupt hielt er in der Bewegung inne. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Dann wandte er sich brüsk ab und eilte mit qualverzerrtem Gesicht die Galerie hinunter. Isobel konnte nicht fassen, was sie soeben beobachtet hatte. Konnte es wirklich sein, dass Henry Thornton, der Liebling der Londoner Gesellschaft, ein Auge auf die fette Florence geworfen hatte? War er ein Verrückter? Nun, vielleicht neigten Künstler ja zu solch unsinnigen Leidenschaften. Offenbar besaß er immerhin einen Sinn für Skurrilität, zumindest wenn man
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