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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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scharten und mit anklagenden Fingern auf sie deuteten.
    Mr. Pinckney, Barney McMillan oder Joe Levine mußten die Ähnlichkeit einfach entdecken; schließlich waren sie geschulte Beobachter. Und wenn nicht, dann würden doch zumindest Ernest Mittle, Maddie Kurnitz oder Dr. Stark sie in der Skizze wiedererkennen und anfangen, sich zu wundern, Fragen zu stellen.
    Oder, wenn es keinem von ihren Freunden und Bekannten auffiel, dann vielleicht einem Fremden auf der Straße. Sie stellte sich einen plötzlichen Schrei vor, Zeter und Mordio um sie herum, eine wilde Hetzjagd, an deren Ende sie gepackt wurde. Und möglicherweise von der Menge zusammengeschlagen. Gelyncht.
    Es war weniger Furcht, die sie erfüllte, als Verwirrung. Die Schande einer derartigen öffentlichen Konfrontation würde sie nicht ertragen: die mörderischen Augen, die geifernden Münder, die gebrüllten Obszönitäten. Lieber auf der Stelle sterben, als einer solchen Demütigung entgegensehen.
    Sie las den Artikel unter der Zeichnung und stellte fest, daß die Polizei eine detaillierte Beschreibung der Kleidung, die sie im Tribunal Motor Inn getragen hatte, besaß. Vermutlich hatte jemand sie mit dem Jungen gesehen und der Polizei dann die Beschreibung gegeben.
    Es wurde sogar erwähnt, daß sie Weißwein trank, allerdings ohne einen Hinweis auf Fingerabdrücke. Aber die Polizei vermutete, daß die Frau, die sie suchte, leise und höflich sprach, ihr Haar relativ kurz trug, sich schlicht kleidete und möglicherweise als Sekretärin arbeitete.
    Es war auf seltsame Weise faszinierend, diese Beschreibung ihrer Person zu lesen. Es war, als sähe man sein Bild in einem Spiegel, der wiederum nur die Reflexion eines Bildes in einem anderen Spiegel darstellte. Die Realität war auf zweifache Weise aufgehoben; das Original war verzerrt und verwackelt.
    Sorgfältig schnitt sie die Phantomzeichnung aus, faltete die zusammen und verstaute sie tief unten in ihrer Handtasche. Dann fiel ihr ein, daß jemand vielleicht die zerschnittene Seite bemerken könnte, und sie schaffte die ganze Ausgabe in den Müllkeller, wo sie sie in einer Tonne vergrub.
    Am Abend hastete sie geradezu von der Arbeit nach Hause, wobei sie den Kopf gesenkt hielt und nur mit Mühe dem Impuls widerstehen konnte, sich die Handtasche vors Gesicht zu halten. Niemand schenkte ihr die geringste Aufmerksamkeit. Wie üblich war sie die unsichtbare Frau.
    Sicher in ihrem Appartement, setzte sie sich mit einem Glas Wodka auf die Couch und betrachtete die Zeichnung erneut. Es schien einfach unglaublich, daß niemand sie erkannt hatte.
    Während sie die Skizze anstarrte, fühlte sie wieder dieses Gefühl der Desorientiertheit. Wie die Beschreibung in den Zeilen darunter entsprach das Bild ihr und entsprach ihr wieder nicht. Es hatte eine verwischte Ähnlichkeit. Sie fragte sich, ob die Zersetzung ihres Körpers sich auf ihr Gesicht ausgedehnt hatte, und die Skizze nur ein Symptom dieser Auflösung war.
    Sie beschäftigte sich immer noch mit der Zeichnung und der ihr vielleicht innewohnenden Bedeutung, als ihre Eltern aus Minnesota anriefen.
    »Baby«, sagte ihr Vater, »hier spricht dein Dad, und Mutter sitzt am Nebenapparat.«
    »Hallo, Dad, Mutter. Wie geht es euch?«
    »Oh, Zoe!« jammerte ihre Mutter und begann geräuschvoll zu weinen.
    »Na, komm, Mutter«, sagte ihr Vater, »du hast versprochen, du würdest das nicht tun. Baby, wir haben einen Anruf von einem Doktor da unten in New York bekommen. Ein Mann namens Stark. Ist das dein Arzt?«
    »Ja, Dad.«
    »Nun, er behauptet, du seist krank, Baby. Er sagt, du müßtest ins Krankenhaus.«
    »Oh, Dad, das ist doch Unsinn. Ich habe mich ein paar Tage lang nicht gut gefühlt, aber jetzt bin ich wieder völlig in Ordnung. Du weißt doch, wie die Ärzte sind.«
    »Sagst du die Wahrheit, Zoe?« fragte ihre Mutter tränenerstickt.
    »Mutter, ich bin vollkommen in Ordnung. Ich nehme meine Medizin und esse regelmäßig. Es gibt absolut nichts, was mit mir nicht stimmt.«
    »Nun, jedenfalls klingst du ganz gesund, Baby. Bist du sicher, daß ich oder Mutter nicht nach New York kommen sollen?«
    »Meinetwegen nicht, Dad. Das ist überhaupt nicht notwendig.«
    »Nun, eh, Mutter hat dir ja geschrieben, daß wir diesen Sommer nach Hawaii fliegen wollen, aber wir können…«
    »Oh, Dad, meinetwegen braucht ihr eure Pläne nicht zu ändern. Mir geht es wirklich bestens.«
    »Wieviel wiegst du jetzt, Zoe?«
    »Ungefähr das gleiche wie immer, Mutter. Vielleicht ein oder

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