Die dritte Todsuende
zwei Pfund weniger, aber die bekomme ich schon wieder drauf.«
»Warum, zum Teufel, hat dieser New Yorker Arzt uns dann angerufen, Baby? Er hat mich und Mutter ganz durcheinandergebracht.«
»Dad, du weißt doch, wie Ärzte sind; die kleinste Kleinigkeit und schon wollen sie dich ins Krankenhaus stecken.«
»Hör zu, Baby, wir verreisen erst Ende Juli. Glaubst du, du könntest in deinem Urlaub auf einen Sprung bei uns hereinschauen?«
»Ich weiß noch nicht, wann ich Urlaub bekomme, Dad. Wenn ich es weiß, werde ich euch schreiben, und vielleicht finden wir einen Weg, selbst wenn es nur für ein paar Tage ist.«
»Hast du jemand kennengelernt, Zoe?« fragte ihre Mutter. »Du weißt schon — einen netten Jungen?«
»Nun, es gibt jemand, mit dem ich hin und wieder ausgehe. Er ist sehr nett.«
»Was macht er beruflich, Baby?«
»Ich weiß nicht genau, Dad. Alles, was ich weiß, ist, daß er Kurse in Computertechnologie nimmt.«
»Computer? Hey, das klingt nach einem cleveren Burschen.«
»Das ist er auch, Dad. Ich glaube, du würdest ihn mögen.«
»Na, das ist ja schön, Baby. Ich bin froh, daß du ausgehst und, eh, Gesellschaft hast. Und ich freue mich, zu hören, daß es dir gutgeht. Dieser verdammte Doktor hat uns ganz schöne Angst eingejagt.«
»Mir geht's gut, Dad, wirklich.«
»Jetzt hör mir mal zu, Zoe«, sagte ihre Mutter. »Ich möchte, daß du uns wenigstens einmal die Woche anrufst. Per R-Gespräch. In Ordnung, Dad?«
»Natürlich, Mutter. Baby, genau das tust du. Ruf uns wenigstens einmal die Woche per R-Gespräch an.«
»Einverstanden, Dad.«
»Und paß auf dich auf, ja?«
»Das werde ich. Danke für euren Anruf. Auf Wiederhören, Mutter. Auf Wiederhören, Vater.«
»Auf Wiederhören, Zoe.«
»Auf Wiederhören, Baby.«
Sie legte auf, und als sie ihre Hände betrachtete, sah sie, wie sie zitterten. Es war schon immer so gewesen: ihre Eltern machten sie nervös, drängten sie in die Defensive. Jagten ihr Schuldgefühle ein. Nicht ein einziges Mal während des ganzen Telefongesprächs hatte sie gesagt: »Ich liebe euch.« Aber andererseits hatten sie das auch nicht gesagt.
Sie aß ein Sandwich mit irgend etwas, das keinen Geschmack hatte. Sie trank noch einen Wodka und nahm ihre Vitamine und Minerale, zwei Anazin und ein Valium. Dann duschte sie und streifte ihren abgetragenen Morgenmantel über.
Sie setzte sich auf die Wohnzimmercouch, ausgelaugt von der Unterhaltung mit ihren Eltern. Es hatte viel Energie erfordert, optimistisch und fröhlich zu klingen, um die Befürchtungen ihrer Eltern zu zerstreuen und sie daran zu hindern, daß sie nach New York kamen und sie in ihrem derzeitigen Zustand erblickten.
Sie nahm an, daß sie in Gedanken immer noch ein kleines Mädchen mit einer fleckenlosen Schürze vor sich sahen, wenn sie sich ihrer erinnerten. Ein kleines Mädchen mit weißen Handschuhen, Kniestrümpfen aus Baumwolle und glänzenden schwarzen Schuhen. Einem süßen Hut mit Blumen darauf. Einer roten Handtasche an einer Messingkette.
Zoe Kohler öffnete ihren Morgenmantel, blickte sich an und sah, was aus dem kleinen Mädchen geworden war. Tränen traten ihr in die Augen, und sie fragte sich, wann das geschehen war und warum.
Wenn sie als Kind gescholten, ignoriert oder an etwas gehindert worden war, dann hatte sie ihrem Peiniger den Tod gewünscht. Wenn ihre Mutter starb oder ihr Vater oder ein bestimmter Lehrer, dann würden ihre Kümmernisse ein Ende haben und ihrem Glück nichts mehr im Wege stehen.
Sie hatte Kenneth den Tod gewünscht. Nicht direkt gewünscht, aber davon geträumt, um wieviel leichter ihre Last würde, wenn er nicht mehr da wäre. Einmal hatte sie sich sogar ausgemalt, daß Maddie Kurnitz stürbe, und Zoe Kohler tröstete den Witwer, und er sah sie plötzlich mit neuen Augen.
Ihr Leben lang hatte sie den Tod der anderen als Lösung für ihre Probleme gesehen. Jetzt sagte ihr ein Blick auf ihr vergiftetes Fleisch, daß nur ihr eigener Tod allem ein Ende setzen würde…
Sie war krank, sie war müde, und dieser dünne, verbitterte Mann, den sie »Polizei« nannte, kam schwankend näher und näher. Ihm wünschte sie den Tod, aber sie wußte, er würde nicht sterben. Er würde weitermachen… Die Zeichnung war so genau, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis…
Gedanken, unvollendet, wirbelten so schnell an ihr vorbei, daß die flackernde Geschwindigkeit, die konzentrierte Intensität sie schwindeln ließen. Sie schloß die Augen, ballte die
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