Die Druidengöttin
verdüsterte sich ihr Gesicht. Besorgt fragte sie ihren Bruder: »Denkst du, Odo und Hew sind sicher in London angekommen?«
»Wenn du ein Straßenräuber wärst, würdest du zwei Riesen angreifen?«
Keely schüttelte den Kopf. »Aber wie lange, glaubst du, dauert es, bis mein Mann freikommt?«
»Das hängt ganz von der englischen Königin ab«, meinte Rhys. »Wales ist deine Heimat, Schwester. Bleibe hier, solange du willst. Ich wäre froh, wenn du immer hier bliebest.«
»Danke«, antwortete Keely lächelnd. Seit Madoc tot war, fühlte sie sich in der Burg der Lloyd zu Hause. Niemand schimpfte sie mehr einen Bastard. Ganz im Gegenteil, die Clans- und Gefolgsleute der Lloyd schienen freundlicher zu sein als je zuvor. Vielleicht hatten sie Keely die ganze Zeit gut leiden können und nur Madocs Zorn gefürchtet.
»Ich kann aber nicht für immer hier bleiben«, antwortete sie. »Mein Mann und mein Baby brauchen mich, und sie brauchen einander. Trotz seiner vielen Fehler liebe ich Richard.«
Rhys warf ihr einen langen Blick zu und erkundigte sich, in welcher Hinsicht der Graf denn Fehler habe.
»Er ist so sehr englisch, daß er nicht über den Horizont hinausblicken kann.«
Rhys biß sich auf die Unterlippe, um ihr nicht ins Gesicht lachen zu müssen. Seine Schwester war so herrlich unlogisch. Schließlich gab es hier niemanden, der über den Horizont hinausblicken konnte. Nur Megan und Keely waren dazu in der Lage gewesen. Nicht wenige glaubten, seine verstorbene Stiefmutter wäre übersinnlich begabt gewesen. Rhys selbst war von Natur aus pragmatisch.
Keely ließ den Blick über den Saal schweifen. »Wo ist Henry?«
Rhys zwinkerte ihr zu. »Unterhält sich mit seiner neuesten Freundin, Elen von den großen Brüsten.«
Keely rollte die Augen. Sie hätte ihren jüngeren Bruder wirklich besser beaufsichtigen sollen. Doch angesichts der Tatsache, daß er ihr das Leben gerettet hatte, brachte sie es nicht übers Herz, ihn von seiner eigenen Art zu feiern abzuhalten.
»Ich muß Beltanezweige sammeln«, wechselte Keely das Thema und streckte die Hand nach dem Mantel und dem Korb aus. »Danach möchte ich Megan besuchen.«
»Es ist kalt heute«, wandte Rhys ein. »Bleibe nicht zu lange draußen, es könnte meinem Neffen schaden.«
»Du willst sagen, deiner Nichte«, berichtigte sie ihn und verließ den Saal.
Draußen im Hof holte Keely tief Luft; hier in Wales war die Luft so rein. Die grauen Wolken hingen bedrückend tief, doch ab und an riß die Wolkendecke auf, und ein paar Sonnenstrahlen erreichten die Erde. In ihren Druidenknochen spürte Keely, daß der Winter vergebens darum kämpfte, das Land und die Menschen in seinen Klauen zu halten. Sie sah über den Horizont hinaus – hinter diesen dunkel dräuenden Wolken wartete der Frühling.
Keely zog den Mantel enger um die Schultern und ging in die Wälder, welche die Burg der Lloyds umgaben. Den Beltanekorb am Arm, suchte sie nach den neun verschiedenen Baumarten, von denen die Zweige für das heilige Beltanefeuer stammen mußten.
Zuerst suchte sie die Eichen- und Birkenzweige, die den Gott und die Göttin symbolisierten und damit die Fruchtbarkeit. Darauf folgten Ebereschenzweige zum Schutz gegen das Böse. Als nächstes kamen Weißdornzweige, die für Reinheit standen, und Haselnußzweige, die die Weisheit symbolisierten. Zum Schluß suchte sie noch wilden Wein zur Förderung der Freude und Tannenzweige als Symbol der Wiedergeburt. Am wichtigsten waren jedoch die Apfelbaumzweige, die sie obenauf legte und die für den Zauber der Liebe standen. Beim Beltanefest wurde die körperliche Vereinigung der jungen Liebenden gefeiert, und die Zweige vom Apfelbaum waren bei diesem Fest das wichtigste Zubehör.
Als sie mit dem Sammeln der Zweige fertig war, kehrte Keely zu der Lichtung im Tal zurück und suchte das Grab ihrer Mutter auf. Sie ging an dem Friedhof der Lloyds vorbei, bis sie zu dem grasbewachsenen Hügel kam, auf dem die drei mächtigen Eichen wie alte Freunde zusammenstanden. Das einsame Grab in ihrer Mitte war gen Osten ausgerichtet, der heiligen Richtung, in der die Sonne aufging.
»Guten Tag«, grüßte Keely die majestätischen Eichen, die Säulen gleich den Ort bewachten, an dem ihre Mutter zur ewigen Ruhe gebettet war.
Keely kniete sich vor das Grab und dachte an glücklichere Zeiten. Ob Sommer oder Winter, ob Regen oder Sonnenschein, hier waren Megan und sie zusammengesessen, hier hatte ihre Mutter sie das alte Wissen gelehrt, den Goldenen
Weitere Kostenlose Bücher