Die Duftnäherin
still um eine Erklärung baten.
»Deine Mutter …«, seine Stimme brach. Er räusperte sich. »… deine Mutter … sie war meine Tochter.«
Anna saß in dem breiten Lehnstuhl, den von Goossen ihr gleich nach der Ankunft in seinem Haus im Arbeitszimmer angeboten hatte, und lauschte verwirrt, aber aufmerksam der Geschichte, die der Ratsherr ihr zu erzählen begonnen hatte. Er war noch ein halbes Kind gewesen, als sein Vater, ein Kaufmann, mit ihm nach Bremen gekommen war und den Lebensmittelpunkt seiner Familie von den Niederlanden in die freie Stadt verlegt hatte. Seitdem war van Goossen an vielen Orten dieser Welt gewesen, in den Städten am Meer, an Flüssen und weit im Landesinneren. Er war auf den heiligen Pfaden der Pilger bis in den Orient gereist, wo er Dinge und Menschen gesehen hatte, die eher phantastischen Geschichten als dem wahren Leben entsprungen zu sein schienen. Dabei war sein Leben immer vom Handel bestimmt gewesen, vom Handel mit Stoffen, die so fein gewoben waren und so strahlende Farben besaßen, dass sich ihr Glanz in den Augen des Betrachters zu spiegeln schien, und vom Handel mit Kräutern und Gewürzen, die den Gaumen der Menschen kitzelten und die Speisen zu Gerichten höchsten Genusses machten. Er berichtete Anna von der Kunst der Winzer, die als die besten ihres Fachs galten und die ihre Reben so lange hingebungsvoll veredelten, bis deren Saft ein einzigartiges Geschmackserlebnis bot. Und er berichtete ihr von den Menschen am anderen Ende der Welt, die aus den Früchten exotischer Pflanzen Süßspeisen herstellten, deren Genuss man sein ganzes Leben lang nicht mehr vergaß.
So geistreich und bunt Anna die Geschichten auch fand, war sie doch die ganze Zeit über mit der Frage beschäftigt, weshalb ihre Mutter ihr nie erzählt hatte, dass ihr Vater, Annas Großvater, noch immer in Bremen lebte. Stattdessen hatte sie Anna immer in dem Glauben gelassen, dass ihre gesamte Familie nur noch aus ihr und Helme bestand, den sie so abgrundtief verachtete.
Ob ihr Großvater von ihm wusste? Er musste ihn doch kennengelernt haben? Von ihrer Mutter wusste sie nur, dass sie mit Helme aus Bremen fortgezogen war, kurz bevor sie mit Anna niedergekommen war. Helme hatte Katharina demnach schon hier kennengelernt. Siegbert von Goossen, ihr Großvater, schien Anna außerdem ein erfahrener Mann und guter Menschenkenner zu sein. Nur weshalb hatte er dann, als die hochgestellte Persönlichkeit, die er war, seine einzige Tochter in die Hände eines Mannes wie Helme gegeben?
»Ist dein Vater tot?«, riss seine Frage sie in diesem Moment aus ihren Gedanken.
»Ehm, nein, er lebt.« Zumindest soweit ich weiß, fügte sie im Stillen hinzu.
»Weshalb bist du hier in Bremen?«
Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Margrite, die van Goossens Bericht, auf einem zweiten Stuhl sitzend, schweigend gefolgt war. Der bemerkte Annas Unsicherheit.
»Es ist wegen deines Vaters, nicht wahr?«
Anna schlug das Herz bis zum Hals. Sie schluckte schwer, brachte aber keinen Ton heraus. Stattdessen nickte sie nur.
»Es musste ja so kommen«, murmelte Siegbert.
»Ihr kanntet ihn also?«
»Deinen Vater?« Die Augen des Ratsherrn verengten sich unwillkürlich zu zwei Schlitzen. »O ja, ich habe ihn kennengelernt.« Die Wut in seinen Augen war unübersehbar.
»Wahrscheinlich wirst du mich hassen, für das, was ich dir jetzt sage. Aber es war meine Schuld, dass deine Mutter ihn geheiratet hat.«
»Eure Schuld? Weshalb?«
Sein Seufzen verriet die schwere Last, die er im Begriff stand, sich von der Seele zu reden. Er zögerte und sah kurz zu Margrite hinüber. Anna reagierte sofort.
»Sie hat mich aufgenommen, als ich nicht wusste, wohin. Was immer Ihr zu sagen habt, ist bei ihr gut aufgehoben.«
Der Alte von Goossen stand auf, ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. »Dein Vater«, er spie das Wort förmlich aus, »ist nicht der, für den du ihn hältst. Zumindest ist er nicht dein leiblicher Vater.« Er drehte sich wieder zu den Frauen herum und lehnte sich gegen die Fensterbank, auf der er sich gleichzeitig mit beiden Händen abstützte.
»Nicht?«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe ihn damals dafür bezahlt, dass er sich als solcher ausgibt.«
Anna riss die Augen auf. »Aber …«
Siegbert von Goossen hob die Hand. »Ich werde dir alles erklären und habe Verständnis dafür, wenn du danach aufstehst und mich nie mehr wiedersehen willst. Doch um deiner Mutter willen, hör mir bis zum Ende zu, auch wenn ich
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