Die Duftnäherin
lassen. Nun, meine Kleine, sie sind bereits verkauft, und weitere Aufträge sind dir sicher.«
Schwungvoll öffnete er die Tür und ließ Anna als Erste eintreten. Der verschlug es bei dem Anblick, der sich ihr bot, schier den Atem. An drei Wänden des großen, lichtdurchfluteten Raumes standen hohe Regale, in denen fein säuberlich eine Vielzahl von verschiedensten Stoffballen in allen Farben gestapelt war. Die untersten Fächer waren jeweils nur mit unzähligen Rollen von Bändern und Bordüren gefüllt. Direkt vor den zwei mannsgroßen Fenstern gegenüber der Tür stand ein Stuhl, daneben ein Tisch mit verschiedenen Garnen und Nadeln, neben dem sich wiederum ein riesiger quer gestellter Verkaufstresen befand, der sowohl zur Ablage wie auch zum Zuschneiden der Stoffe diente.
Anna trat mit offenem Mund an eines der Regale heran und ließ ihre Fingerspitzen über die kostbaren Stoffballen gleiten. Sprachlos drehte sie sich zu Siegbert um.
»Genau so hatte ich mir vorgestellt, dass du gucken würdest, wenn du das hier siehst.« Er strahlte sie an. »Freust du dich, mein Kind?«
Sie eilte zu ihm hinüber und drückte ihn immer wieder heftig an sich.
Siegbert schluckte schwer, legte vorsichtig die Arme um sie und erwiderte ihre Umarmung. »Das ist ab heute dein Reich, meine Anna.«
Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück.
»Ja, du hast schon verstanden. Hier kannst du die feinen Damen empfangen und ihnen die Stoffe zeigen, aus denen du ihre Kleider fertigen wirst. Und auf dem Stuhl dort kannst du in aller Ruhe und bei gutem Licht nähen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.« Er räusperte sich. »Ich würde mich außerdem freuen, wenn du …«, er drehte sich zu Gawin, »… wenn ihr beide in mein Haus ziehen würdet. Es ist groß genug, nein, es ist sogar viel zu groß für nur einen einzelnen Mann.« Er wandte sich wieder an Anna. »Aber ich verstehe auch, wenn ihr euch dagegen entscheiden solltet. Betrachtet es als einen Vorschlag, überlegt in Ruhe und beratet euch. Doch dieser Raum gehört in jedem Fall dir, Anna. Und ich stelle dir Marquardt an die Seite, er wird dir alles beschaffen, was du benötigst.«
»Marquardt?«
Siegbert machte einen Schritt aus dem Raum hinaus und rief den Namen laut durch die Eingangshalle. Nur wenige Augenblicke später kam ein Mann die Treppe herunter, den der Ratsherr in das Tuchzimmer winkte.
»Anna, ich möchte dir Marquardt vorstellen. Er ist mir seit vielen Jahren ein treuer Helfer. Ich vertraue ihm, und du kannst es auch. Er ist des Lesens und Schreibens mächtig und wird die Verhandlungen für dich führen, wenn du Stoffe aussuchst. Mit ihm an deiner Seite wird dich niemand zu übervorteilen versuchen.«
Anna beugte leicht das Knie, worauf Marquardt sie erschrocken ansah. Er war hier der Diener, auch wenn sein Herr diesen Begriff nicht benutzt hatte, während sie die Enkelin seines Herrn und damit die Frau war, der er Gehorsam zu leisten hatte. Dass sie ihm vorab Dankbarkeit für seine Dienste bezeugte, und noch dazu auf diese Weise, war unangebracht und verwirrte ihn.
Sie schien seine Gedanken zu erahnen, denn schnell kam sie wieder nach oben und auf ihn zu. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Marquardt. Wir werden uns sicher gut verstehen«, meinte sie mit einem huldvollen Nicken ihres Kopfes und warf ihrem Großvater einen unsicheren Blick zu, der ihr nun seinerseits mit einem sanften Nicken bedeutete, dass die Anrede Marquardts korrekt sei.
»Das ist sehr gütig, Herrin.«
Der Diener stand da, schaute sie aufmerksam an und wartete auf weitere Weisung.
»Ich würde mir im nächsten Schritt gern einen Überblick verschaffen.«
»Wie Ihr wünscht, Herrin.« Er zögerte noch einen Moment. Doch da Anna nichts weiter sagte, nahm er dies als Hinweis, sich entfernen zu dürfen. Er verbeugte sich und verließ den Raum.
»Es ist mir peinlich, dass er mich Herrin nennt.« Sie hatte es ganz leise gesagt und war dabei dicht an Siegbert herangetreten.
Er lachte gutmütig. »Du wirst dich daran gewöhnen, glaub mir. Marquardt ist ein Juwel, das versichere ich dir. Seine Eltern waren reiche Bauern in Böhmen, die den dortigen Unruhen zum Opfer gefallen sind. Ich habe ihn freigekauft. Weiß der Himmel, was sie sonst mit ihm angestellt hätten. Er ist mir seit Jahrzehnten treu ergeben, und seine Fähigkeiten als Buchhalter sind außerordentlich. Ich betrachte ihn nicht als Diener, doch ihm selbst scheint diese Funktion eine gewisse Sicherheit zu
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