Die Dunkelheit in den Bergen
dieser Angelegenheit beraten. Inzwischen war der Beschluss über die Aufstellung eines Totenbeschauers und die Behandlung der Leichen veröffentlicht worden. Mit dem Dekret sollten Unglücksfälle und andere nachteilige Folgen vermieden werden, die durch vorzeitige Beerdigungen entstanden. Der erste Totenbeschauer war nun vereidigt worden. Chirurgus Johann Jakob Wild war verpflichtet, jede Leiche, zu der er gerufen wurde, unverzüglich zu untersuchen und allenfalls Rettungsversuche zu unternehmen. Dies musste bei ertrunkenen, erstickten, erfrorenen, vom Schlag gerührten oder auf andere Weise verunglückten Personen und auch bei totgeborenen Kindern geschehen.
Der Totenbeschauer durfte für seine Dienste keine Belohnung fordern, sondern musste sich mit seiner Besoldung begnügen. Keine Leiche durfte ohne Bescheinigung des Totenbeschauers beerdigt werden. In der Nähe von Verstorbenen sollten alle unnötigen Geräusche und Lärm vermieden werden, damit auch die leisesten Lebenszeichen von Scheintoten wahrgenommen werden konnten. Bis der Chirurgus die Leiche nicht besichtig hatte, sollte ihr das Kopfkissen nicht weggenommen werden. Die Erschütterung beim plötzlichen Wegziehen des Kopfkissens und die dadurch verursachte Lage, in welcher Flüssigkeiten in Richtung des Kopfes drangen, konnten den etwa noch vorhandenen Lebensfunken endgültig auslöschen. Hingegen ist Bettwärme wohltätig, denn jeder Scheintote war umso schwerer zu beleben, je früher er erkaltete. Der Mund einer Leiche durfte weder gewaltsam geschlossen noch durch Unterlegung von Büchern oder andern Sachen zugehalten werden, weil dadurch das unmerkliche Atmen bei Scheintoten vollends unmöglich gemacht und der wirkliche Tod befördert wurde. Der Sarg durfte frühestens eine Stunde vor der Beerdigung zugenagelt werden.
21 Sorglose Seelen im tiefen Schlaf.
Der Bach floss vom oberen Waldrand quer über die Lichtung und an der Mühle vorbei in einen schilfgesäumten Weiher. Daher kam der Name Weihermühle. Das Mühlenrad stand still, aber das Murmeln des Baches war zu hören.
Traumverlorenes Schweben in Morpheus’ Armen. In das sanfte Wiegen fuhr plötzlich ein greller Schmerz. Dämonen brachen ein in die Stille der Nacht, warfen sich auf die trägen, bettwarmen Körper, rissen sie hoch und hieben und stachen mit scharfen Klingen auf sie ein.
In der Müllerstube, in der Kammer, im Vorraum, auf der Haustreppe verrenkten sich die Leiber, um sich zu wehren oder zu fliehen. Kaum aus dem Schlaf erwacht, wurden sie in die Tiefe zurückgeschickt.
Aus dem Schlaf, in den Schlaf.
Sie verstand nicht, was hier geschah, sah fast nichts, eine schemenhafte Bewegung in der Finsternis, die auf sie herunterfuhr und mit einem hässlichen Geräusch endete, es klang nach einem nassen Tuch, das auf den Boden geklatscht wurde, aber das war es nicht, denn die Matratze erbebte unter der Wucht des Schlags, etwas Warmes spritzte ihr ins Gesicht, sie richtete sich auf, ein Schrei entfuhr ihr, sie versuchte zu erkennen, was hier geschah, aber im schwachen Schein, der durch das winzige Fenster fiel, konnte sie nur einen Schatten erkennen, der nun bis an die Decke der Kammer wuchs und wieder auf sie herunterfuhr.
Sie fühlte, dass ihr nicht mehr alle Glieder gehorchten, trotzdem kletterte sie am Fußende aus dem Bett, tastete sich an der Wand entlang und wollte zur Tür, als der Schatten auf sie fiel, mit Wucht ihr linkes Schlüsselbein durchschlug und in ihr stecken blieb. Als er sie wieder freigab, wurde sie zu Boden gerissen, ihr Kopf stieß gegen ein Bein, das sie umklammerte. Ein Dämon wütete in der Kammer, der es auf sie abgesehen hatte. Für einen Augenblick verlor er das Gleichgewicht und fiel gegen die Wand. Sie floh in die Stube, rutschte aus, fiel, spürte einen Schlag seitlich in den Rücken. Der Schatten verfolgte sie, ließ nicht ab. Was hab ich dir getan?, schrie sie. Es gelang ihr aufzustehen, als ein Schlag gegen ihren Kopf sie herumschleuderte. Sie kroch in den Vorraum hinaus, wurde gepackt, zurückgerissen, sie wehrte sich und riss die Haustür auf. Draußen war die dunkle Nacht, sie fiel hinab, in die Tiefe, die sie auffing, sie in ihre Arme nahm und mit sich trug.
22 Dieselbe Nacht, ein anderer Traum: Sie stand in einem vertrockneten Garten. Dürre Blätter an den Sträuchern, von Staub und Spinnweben bedeckt. Es war Sommer, aber nirgendwo war saftiges Grün zu sehen. Im Garten stand ein Baum, ein mächtiger Baum, mit Hauptästen dick wie
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