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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Huonder
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Menschenkörper. Die Rinde war grau und hart wie Fels, die Blätter waren dunkelrot. Es wehte ein starker Wind, und die Äste bewegten sich. Sogar die dicken Hauptäste waren biegsam und beweglich. Sie wunderte sich, dass das Holz nicht brach oder splitterte, sondern sich mit dem Wind hin- und herbewegte wie Leiber beim Tanz. Sie hatte Lust, auf den Baum zu klettern, sah aber, dass die gewaltigen Äste einander so nah kamen, dass sie sich berührten und alles zermalmen würden, was zwischen sie geriet. Nachdem sie eine Weile die ausladenden Bewegungen beobachtet hatte, war ihre Lust so groß geworden, dass sie die Angst überwand, sich am untersten Ast emporzog und den Baum bestieg. Es war nicht so schwierig, wie sie befürchtet hatte. Es gelang ihr, sich den Bewegungen der schwankenden Äste anzupassen, ohne von ihnen erdrückt zu werden. Mit Armen und Beinen hielt sie einen der Äste umklammert und wurde von ihm auf und ab geschaukelt, dass ihr schwindlig wurde. Es war aber ein angenehmer Schwindel, wie ein leichter Rausch, und als sie langsam aus dem Traum in die Wirklichkeit hinüberglitt und merkte, dass sie auf ihrem Mann lag und ihn umklammerte, erreichte ihre Lust bereits den Höhepunkt, und es war ihr in diesem Augenblick einerlei, wo sie war, Traum oder Wachheit, gut oder böse, richtig oder falsch, was spielte das schon für eine Rolle.
    Anna Bonadurer hatte geschlafen, als ihr Mann spät in der Nacht nach Hause gekommen war. Sie hatte nicht bemerkt, wie er Schuhe und Kleider in der Küche gelassen hatte und vorsichtig unter die Decke gekrochen war, damit sie nicht aufwachte.

II
    Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?
    Georg Büchner, in einem Brief an seine Braut Wilhelmine Jaegle am 10. März 1834

23 Er glaubte an die Ordnung, an das ordnende Prinzip, an Strukturen und Hierarchien (Menschen wollen führen oder geführt werden), er glaubte an die Gesetzgebung und an die Genauigkeit der Gesetzgebung (ein einzelner Buchstabe oder ein Satzzeichen konnte den Inhalt, die Aussage und Bedeutung eines Gesetzes verändern). Er glaubte an klare Verhältnisse ohne schwammige oder zwielichtige Bereiche, wenn er auch wusste, dass dies ein Ideal war, nicht erreichbar, aber unentwegt anzustreben, ein hohes Ziel, eine Maxime, nach der man leben und arbeiten konnte und musste.
    Der Baron war Polizeidirektor, trug jedoch keine Uniform. Vielleicht war es an der Zeit, eine einzuführen? Die Landjäger waren als solche erkennbar in ihren Pantalons und den grauen Mänteln mit den grünen Ärmelaufschlägen und Kragenspickeln. Wieso sollte das oberste Haupt der Behörde nicht auch zu erkennen sein (in einem etwas feineren Tuch, elegant auf Taille geschnitten, nach der englischen Mode)? Vielleicht konnte er es sich nach der Bestätigung im Amt jetzt leisten, diesem mehr äußere Würde und Autorität zu verleihen. Er dachte an das neue Gespann, das er heute von seinen Angestellten übernehmen lassen würde. Zwei große Rappen, eine Kutsche mit vergittertem Abteil für den Transport von Gefangenen. Er stellte sich ihr beeindruckendes Getöse vor, wenn sie im Trab durchs Untertor herein und die Reichsgasse hinaufrollte und beim Süßen Winkel zum Gefängnis einbog. Das Donnern des Gesetzes würde die Hauswände erzittern lassen und Gauner und Tagediebe in die Flucht schlagen.
    Welch ein Schwung ihn in den frühen Stunden erfasste, wenn der erste Streifen Licht am Himmel erschien, hinter dem bischöflichen Schloss und dem Montalin, der sich im Osten über Chur erhob. Verzagtheit und Bedrücktheit der Nacht waren wie weggeblasen und machten einer frischen Klarheit Platz. Licht und Schatten, Farben, messerscharfe Konturen waren zu erkennen, sobald die Sonne ihre Strahlen über den Bergkamm schickte und, auf der anderen Seite der Stadt, hinter dem Rhein, der Calanda in seinen goldenen Farbtönen erstrahlte, ocker die Weiden, schiefergrau die Felsen, weiß ein letzter Schneeflecken.
    Der Baron erhob sich, ging ins Arbeitszimmer hinüber, ordnete die Papiere, die er gestern mit nach Hause genommen hatte, legte sie in die lederne Mappe, trat ans Fenster, blickte auf den Innenhof und über die Dächer zum Calanda hinauf, ging dann ins Schlafzimmer, um seine Gemahlin aufzuwecken – Guten Morgen, meine liebe Josepha! – und die Vorhänge zur Seite zu ziehen, begegnete danach in der Eingangshalle des Hauses dem Diener Vinzenz, begrüßte die alte Lena in der Küche, die den Herd anfeuerte.
    Der Morgen der Familie von Mont wurde

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