Die Dunkelheit in den Bergen
Verhörrichter!
Der Baron nahm den Brief an, öffnete ihn und las, während die Anwesenden ihm dabei zusahen.
Rimmel ist verhaftet worden!, rief er erfreut, gestern Abend in Splügen, und er hat die Tat gestanden! Damit können wir die Zeugenbefragung abbrechen.
Der Mann aus Sculms wunderte sich, dass er so schnell wieder entlassen wurde.
54 Das Gehirn ist ein weiches Organ, dachte Baron von Mont. Aber es ist fähig, Ordnung zu schaffen. Der Magen verdaut, das Herz pumpt, die Lunge atmet, das Gehirn schafft Ordnung. Es unterteilt die Welt in oben und unten, hell und dunkel, nass und trocken, laut und leise, gut und böse, richtig und falsch. In dieser Ordnung kann der Mensch leben und sich entwickeln, wachsen und gedeihen, froh werden. Das Gehirn liegt im Schädelgewölbe, dachte der Baron, wie ein rohes Ei in der Schale, es denkt nach und sagt uns, was wir tun sollen. Und wenn es krank ist, können wir uns nicht mehr darauf verlassen. Dann schafft das Gehirn aus dem Durcheinander nur weiteres Durcheinander, treibt uns zu unverständlichen Handlungen an, zu Gelächter, unsinnigen Sätzen, Meinungen, die uns unglücklich machen und ins Verderben stürzen, zu Mord und Totschlag. Die Gedanken eines kranken Gehirns breiten sich aus wie eine Seuche, auf unberechenbare Art, sie greifen auf den Körper über, dem das Gehirn vorsteht, auf den Schädel, den Hals, die Gliedmaßen, welche schändliche Taten ausüben, Haare raufen, schlagen, töten, und die Unordnung breitet sich aus wie ein Brand im trockenen Unterholz, Recht und Gesetz werden gebrochen. Nur die Justiz vermag dem Einhalt zu gebieten und die Welt davor zu schützen. Nur die Justiz vermag Grenzen und Schranken zu setzen (und Gefängnismauern), wenn das Denken außer Rand und Band gerät. Die Medizin vermag so ein Gehirn zu untersuchen und zu verstehen und gar zu heilen. Aber die Justiz ist für etwas anderes da: Sie hält die zerstörerische, böse Kraft auf. Sie tut es mit der Kraft und Gewalt der Volksgemeinschaft und des Staates. Sie muss dies mit Härte, Unnachgiebigkeit und Unerbittlichkeit tun. Die Justiz darf sich nicht biegen lassen, darf nicht morsch und löchrig werden, schwach wie ein verfaulender Baum, nein, stark und mächtig und kraftvoll muss sie sein. Die Justiz setzt dem zerstörerischen Einfluss eines bösen Gehirns die gerechte Strafe entgegen. Strafe gegen Verbrechen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Franziskus Rimmel muss mit dem Tod bestraft werden, und das ist noch viel zu wenig. Er hat drei Menschen und zwei Ungeborene aufs Schändlichste niedergemetzelt. Dafür muss ihm das Gericht die strengste Strafe angedeihen lassen, die sich finden lässt. Gott sei Dank habe ich zwei neue wackere Männer für die Justiz verpflichten können, Soldaten der Gerechtigkeit –
Das waren Gedanken des Verhörrichters Baron Johann Heinrich von Mont, während er am Samstagabend (noch vor Einbruch der Dunkelheit!) in seiner schwarzen Karosse auf dem Weg von Bonaduz nach Chur war.
Wollte er damit seine Zweifel zerreden? Oder Ordnung in seine umherschweifenden Theorien bringen? Recht und Gesetz drohten in dieser Zeit kompliziert zu werden. Seit dem Mittelalter gab es für jede Tat eine festgelegte Strafe. Inzwischen wurde auch nach den Ursachen und Gründen für eine Tat und nach dem Grad der Schuld gefragt. Das war vielleicht gerechter, aber auch komplizierter. Vor drei Wochen erst hatte in Leipzig ein Mann namens Johann Christian Woyzeck seine Freundin Johanna Christiane Woost mit dem Messer erstochen. Vom langen, komplizierten und beispielgebenden Gerichtsverfahren mit seinen verschiedenen Gutachten würde der Verhörrichter erst einige Zeit später lesen und sich dann wundern: Johann Christian und Johanna Christiane, Franziskus und Franziska –
55 Am Sonntag, den 15. Juli, saß am frühen Nachmittag der Wächter des Oberen Churer Stadttors auf einer Holzbank, die er sich an die Außenwand gestellt hatte. Die Mauer war von der Sonne aufgewärmt, das tat seinem Rücken gut. Er hatte es nämlich mit dem Kreuz. Das andauernde Stehen oder Sitzen war nicht annähernd so gemütlich, wie ihm alle immer vorhielten. Mit dem warmen Stein im Rücken und der Sonne auf dem Bauch ließ es sich allerdings aushalten. So konnte er etwas dösen. Er musste sogar richtig eingeschlafen sein, denn plötzlich ließ ihn ein lautes Schnauben hochfahren. Sackerment!, fluchte er und starrte in die hellgrauen Nüstern, die ihm eben Rotz ins Gesicht geblasen hatten. Er hob die Hand an
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