Die dunkle Armee
vorübergehender Verwirrung, er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und betrachtete den Abhang. Die Sonne erhob sich gerade über dem Horizont und tauchte den Wald in ihr frühes Licht, während einige Stellen noch in tiefem Schatten lagen. Es war ein wunderschöner Genastromorgen.
»Da stimmt etwas nicht«, sagte er mehr zu sich selbst. »Dahnishev, geh jetzt. Nimm deine Leute mit und geh.«
»Roberto …«
»Nun mach schon!«
Dahnishev zuckte zusammen, wechselte einen Blick mit Roberto und gab die entsprechenden Befehle. Roberto nagte an der Unterlippe.
»Was ist los?«, fragte Kell.
»Hör nur, der Lärm. Das sind keine Kampfschreie und keine Befehle, wie man sie bei einem angreifenden Heer erwarten würde.«
Kell lauschte und vermochte nur zahlreiche Stimmen und das Trampeln von Füßen herauszuhören. »Ich weiß nicht …«
»Da stimmt etwas nicht«, sagte Roberto noch einmal. »Das klingt nicht nach Zuversicht, sondern nach Angst.«
»Wovor könnten sie sich fürchten?«
Roberto schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Steig auf dein Pferd. Ich glaube, die Zeit wird noch knapper, als wir ohnehin schon dachten.«
Kell hatte immer noch keine Ahnung, worüber Roberto sich solche Sorgen machte, aber andere teilten seine Befürchtungen offenbar. Gerade zogen sich die letzten Triarii den Hang hinauf zurück und näherten sich dem Sammelpunkt, von dem aus sie den Ausbruch wagen wollten. Ihnen folgten Bogenschützen, die eilig liefen und sich immer wieder über die Schulter umschauten. Einige eilten sogar in die Gegenrichtung, um selbst zu sehen, was dort vorging. Der Wald, der ihre Positionen verborgen hatte, behinderte jetzt ihren Blick auf die Straße und die Burg.
»Ich weiß nicht …«
Jetzt bekam auch Kell Angst. Sie witterte etwas Undefinierbares. Roberto packte sie am Arm.
»Dina, lauf!«
Dann versetzte er ihr einen Stoß und machte sich selbst auf zum Pfad. Mehrere dumpfe Explosionen hallten unterhalb des Abhangs. Trümmer flogen in die Luft, höher als die Bäume, und segelten langsam wieder herab. Es sah nach Pflanzenteilen aus – Blätter, Äste und sogar Baumrinde. Keils Herz schlug heftig, als wollte es zerspringen. Jetzt hörte sie, was Roberto schon vorher bemerkt hatte. Ein Kreischen ertönte, das nicht von den Bärenkrallen kam.
Alle hatten sich umgedreht und starrten hinüber. Sie hatten die Schwerter aus den Scheiden gezogen. Einige Legionäre deuteten dorthin, einige wichen unwillkürlich zur Felswand zurück. Hoch oben auf dem Weg riefen die Leute, denn von dort aus hatten sie eine gute Übersicht, die Kell und Roberto verwehrt blieb.
»Es ist Gorian«, sagte Roberto. »Es gibt keine andere Erklärung.«
Dann brach das Chaos aus. Tsardonier rannten auf die Felswand zu. Keiner von ihnen hatte eine Waffe gezogen, und keiner kümmerte sich darum, was vor ihm war. Einzelne Legionäre der Bärenkrallen erinnerten sich an ihre jahrelange Ausbildung und formierten sich neu, sofern sie willige Kameraden fanden. Viele stießen aufgeregte Rufe aus. Auch Kell rief, aber Roberto übertönte alle anderen. Einen Augenblick lang war er wieder der große General.
»Bärenkrallen, flieht. Lauft zum Sammelpunkt. Flieht sofort, zieht euch zurück. Bewegt euch!«
Seine Worte waren weithin zu hören, und die Soldaten gehorchten. Die letzten paar rannten zusammen mit Kell. Sie konnte nicht einmal einen Blick zurückwerfen, um sich zu vergewissern, was aus ihrem Mann und dem Erben der Advokatin wurde. Links von ihr, nur wenige Schritte entfernt, erhob sich die Felswand, und rechts arbeitete etwas im Erdboden, das ihren Füßen Flügel verlieh. Die Tsardonier rannten mit höchster Geschwindigkeit und hätten eigentlich von einem Wald von konkordantischen Klingen empfangen werden müssen, doch auch die Bärenkrallen rannten, und vor ihnen galoppierten die Kavalleristen. Sie eilten quer vor der Felswand den Abhang hinunter, um nach links auf die Straße einzubiegen und zu verschwinden.
Eine brodelnde Schwärze breitete sich auf dem bewaldeten Abhang aus, schneller als ein Mann laufen konnte. Wie die Gischt auf einer Welle flog ein Nebelschleier von Sporen oder Staub hoch. Kell setzte sich stolpernd in Bewegung, konnte aber nicht den Blick von der Katastrophe wenden. Sie befand sich inmitten eines Gedränges von Legionären, das sich vor einem Strom von Schmieden, Ordenspriestern, Ärzten und anderen nicht kämpfenden Helfern bewegte, die Robertos Befehl gehört hatten und um ihr Leben
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