Die dunkle Armee
Geschenk annahm. Er streichelte Kessians schöne blonde Haare, und zum ersten Mal wich der Junge nicht vor der sanften Berührung zurück. »Schäme dich nicht, sondern sei stolz darauf. Kannst du jetzt erkennen, warum es richtig war, dich aus der Akademie zu befreien? Und vorübergehend auch von deiner Mutter? Du musstest verbergen, was du warst, weil du dachtest, sie würden es nicht verstehen. Damit hast du recht, sie hätten es nicht verstanden. Sie hätten dich studiert und dich zurückgehalten, bis sie dachten, sie könnten dich gefahrlos weiter unterrichten.
Bei mir wird so etwas nicht geschehen. Du bist allen anderen Aufgestiegenen weit voraus. Viel weiter, als ich es in deinem Alter war. Aber das macht mir keine Angst, sondern ich freue mich darüber. Es bedeutet nur, dass es dir viel leichter fällt, deine Fähigkeiten auf die richtige Weise zu formen.«
Kessians Miene hellte sich ein wenig auf, und endlich hatte Gorian das Gefühl, seinen Sohn erreichen zu können.
»Ich werde dich verstehen lehren, was du fühlst und wie du deine Kräfte einsetzen kannst. Ich werde dich Dinge lehren, die du an der Akademie nie gelernt hättest. Dinge, die sie für gefährlich halten, die aber jedem Aufgestiegenen von Rechts wegen zustehen. Du willst doch lernen, oder?«
Kessian nickte.
»Nun, dann werde ich dir helfen, und als Gegenleistung hilfst du auch mir. Ich werde dich nicht bitten, etwas zu tun, was du nicht tun willst. Du wirst niemandem wehtun, das verspreche ich dir. Und auch ich werde niemandem wehtun, der an mich glaubt. An uns. Außerdem verspreche ich dir, dass du deine Mutter wieder sehen wirst. Ich kann noch nicht sagen, wann, aber du wirst sie wieder sehen. Eines Tages werden wir alle wieder zusammenkommen und eine richtige Familie sein. Nun, was sagst du dazu? Willst du es versuchen?«
Wieder gewann die Verwirrung die Oberhand. Gorian konnte den Jungen gut verstehen. Er lächelte und zauste ihm die Haare, dann stand er auf.
»Also gut. Ich weiß, dass das alles ein bisschen viel für dich ist. Es tut mir leid, dass ich dir das antun musste, verstehst du?«
Kessian nickte, und ein winziges Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Du hast Angst, du kennst mich nicht, du weißt nicht, wo du bist und wohin wir fahren. Sag mal, hast du vielleicht Hunger?«
»Ein bisschen.«
»Also gut, dann pass auf. Ich werde dich jetzt allein lassen, damit du eine Weile über alles nachdenken kannst, was wir besprochen haben. Dann bringe ich dir etwas zu essen, und dann sagst du mir, was du denkst. Noch etwas, Kessian. Ich will dir noch eines versprechen. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas tut. Solange du bei mir bist, bist du in Sicherheit. Du bist mein Sohn, und ganz egal, was du darüber denkst, du bist mir unendlich wichtig.«
Gorian zog den Vorhang vor die Nische und stieg die Treppe zum Deck hinauf. Er war noch nicht sicher, ob er Kessian wirklich für sich gewonnen hatte, aber eines wusste er genau: Er hatte recht gehabt, was die enormen Kräfte des Jungen anging, und sie konnten geweckt und benutzt werden. Damit wäre Gorian zehnmal so stark wie bisher.
Der Grundstein war gelegt. Er blickte nach Westen in die Richtung von Gestern und glaubte schon, die schneebedeckten Gipfel von Kark zu erkennen.
»Bald seid ihr an der Reihe«, erklärte er dem Wind. »Dann kann es wirklich beginnen.«
9
859. Zyklus Gottes,
8. Tag des Genasauf
K atrin Mardov, die Marschallverteidigerin von Gestern, bat einen Adjutanten, die Botin aus Wystrial noch einmal zu ihr zu holen. Sie saß an ihrem Schreibtisch in der Basilika von Skiona und stützte den Kopf in beide Hände. Schon seit geraumer Zeit waren die Anzeichen unübersehbar gewesen, aber dies war ein direkter Schlag. Dies war eine Kriegshandlung.
Eine gewisse Anzahl Tsardonier hatte den Winter über nördlich von Kark gelagert. Estorr hatte das Manöver als bloße Drohgebärde bezeichnet, aber Mardov hatte vorsichtshalber die Nordgrenze zu Atreska verstärkt und auch Kark Truppen angeboten. Im Moment waren noch tausend Legionäre als Späher und Berater in den Bergen unterwegs. Die Berichte, die sie von dort erhielt, gefielen ihr überhaupt nicht.
Und jetzt dies. Sie hatte immer angenommen, Tsard werde eines Tages zurückkehren, um das Werk zu vollenden, das es vor zehn Jahren begonnen hatte. Die Feinde waren heute besser gerüstet denn je. Nur Paul Jhered hörte wirklich auf sie. Alle anderen in der Hierarchie der Konkordanz nahmen
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