Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
das Gefühl, als hätte meine Mutter Estelle den Raum betreten. Ihr Geruch und ihre Aura waren so intensiv, dass meine Hände vor Erregung zitterten, als ich das Buch aus dem Fach hob und auf die Schreibtischplatte legte. Ob es ihr Tagebuch war? Das wäre unglaublich, viel mehr, als ich erwarten durfte! Würde dieses Buch endlich Licht in das Dunkel bringen, das meine letzten Jahre hier auf Blankensee so verdüstert hatte, dass ich sie aus meiner Erinnerung getilgt hatte?
Eine Weile starrte ich es nur an, unfähig es zu öffnen, aus Angst, dass zwischen diesen Buchdeckeln ein Geheimnis verborgen lag, dessen Enthüllung ich vielleicht gar nicht ertragen konnte. Dennoch – ich schlug es auf.
In der schön geschwungenen Handschrift meiner Mutter las ich: Chronik der Familie Vanderborg .
Eine Familienchronik! Ich war verblüfft. Meine Mutter hatte eine Familienchronik angelegt und geführt? Nie hatte sie ein Wort darüber verlauten lassen und so konnte ichmein Glück kaum fassen. Monatelang hatte Lenz sich mit seiner Psychoanalyse abgemüht, um aus den Tiefen meines Unterbewusstseins meine Vergangenheit wieder hervorzuholen, und nun lag alles vor mir in diesem wunderbaren Buch! Was immer es enthielt, auch meine verloren geglaubte Geschichte würde darunter sein und ich würde endlich erfahren, wer ich wirklich war.
Ich blätterte das Deckblatt um und las …
Blankensee, im Juni 1904
Ich beginne dieses Buch in großer Verzweiflung.
Eine dunkle Chronik der Familie Vanderborg, die von jenen berichten wird, welche im Schatten ihr Dasein fristen und Licht und Liebe fliehen müssen, weil sie Tod und Verderben über sie bringen.
Ich stockte, denn eine finstere Ahnung schien nun Gewissheit zu werden.
Ich schreibe dieses Buch für die Nachwelt, für jene, die niemals sein dürften und doch sein werden. Ich schreibe es für das Kind, welches ich unter meinem Herzen trage …
Mich schauderte und ich scheute mich weiterzulesen, denn schon diese wenigen Worte klangen wie eine düstere Prophezeiung. Und das Schlimmste daran war, dass sie mir galt, denn das Kind, von dem hier die Rede war, war ich. Ich stand auf und ging unruhig im Zimmer umher, aber es zog mich wie magisch zurück zum Schreibtisch und hinein in dieses Buch, dessen Bedeutsamkeit für mein weiteres Leben ich bereits zu ahnen begann. Dennoch traf mich, als ich den Lesefaden wieder aufnahm, der Schock der nächsten Worte völlig unvermittelt …
Ich schreibe es für das Kind, welches ich unter meinem Herzen trage und von dem ich nicht weiß, wer sein Vater ist. Das verabscheuungswürdige Scheusal, mit dem ich verheiratet bin, oder der heimliche Geliebte, von dem niemand wissen darf und …
Die Worte und Zeilen verschwammen vor meinen Augen, in mich kroch eine Kälte hinein, die mich langsam erstarren ließ. Nur ein Satz hämmerte in meinem Gehirn … ich weiß nicht, wer der Vater meines Kindes ist … wer Amandas Vater ist … ich weiß es nicht … weiß nicht … ihr Vater … wer ist ihr Vater … mein heimlicher Geliebter … oder das Scheusal, mit dem ich verheiratet bin … wer … wer … wer …
Meine Erschütterung war so groß, dass ich eine ganze Weile ohne Gefühl für Zeit und Raum bewegungs- und bewusstseinslos vor dem Buch saß. Dann stürzte ich mich wie eine Besessene verzweifelt in die Lektüre und versank in der Geschichte der Vanderborgs, die in ihrer ganzen Grausamkeit und Tragik auch die meine war.
Erst als Conrad am nächsten Morgen wie wild gegen die Tür hämmerte, fand ich zurück in die Gegenwart.
Ich klappte das Buch zu, schob es zurück in sein geheimes Fach und ging mit steifen Gliedern zur Tür, um ihn hereinzulassen.
Er war so glücklich, mich lebendig und unversehrt vorzufinden, dass ihn nichts weiter interessierte als mein Wohlbefinden, dem er sich auch sogleich mit liebevoller Fürsorge widmete. Er kochte Tee, ließ mir ein warmes Bad ein, entfachte ein Feuer im Kamin und überschlug sich förmlich vor Aufmerksamkeit. Er musste ein gehörig schlechtes Gewissen haben, weil er sich am Abend so wenig unter Kontrolle gehabt hatte und annehmen musste,dass er mich damit erneut verstört hatte. Ich ließ ihn in dem Glauben.
Obwohl es mich zurück zur Chronik drängte, nahm ich doch zunächst Conrads Freundlichkeiten an und merkte bald, wie gut mir das tat. Doch als er mich auf die Couch zu einer Analyse bat, fand ich das allerdings ein bisschen frech und meinte schnippisch: »Da leg dich mal heute lieber
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