Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
»Estelle, es geht nicht. Ich muss fort. So wie es aussieht, wird es nur ein kleines Scharmützel, und wenn die Blätter von den Bäumen fallen, bin ich gewiss wieder hier. Wir sammeln Pilze in der Heide und rösten Brot am warmen Feuer. Keiner wird mehr an den Krieg denken und alles wird sein wie immer.«
Aber nach diesem Großen Krieg war nichts mehr, wie es zuvor noch gewesen. Selbst ich, die ich in vielen Kriegen gesehen hatte, was der Mensch dem Menschen antun konnte, ahnte nicht, dass der vergiftete Atem dieses Krieges über ganz Europa wehen und seine Jugend in nie gekannten Dimensionen massenhaft vernichten würde. Um ein Vielfaches grausamer, als es die düsteren und entsetzlich verstörenden Visionen von Georg Heym oder einem anderen der jungen Dichter hatten beschreiben können. In einem aber behielten sie recht: Alle Straßen des Krieges enden in schwarzer Verwesung …
A m 1. August 1914 erfolgte tatsächlich nach der russischen und der österreichischen auch die deutsche Generalmobilmachung.
Nicht Amadeus oder Friedrich brachte mir diese Nachricht, denn die durften die Garnison bereits nicht mehr verlassen, sondern Vanderborg. Er knallte mir die Nummer 1 des Berliner Illustrierten Extrablattes auf den Schreibtisch. Auf der Front ein fast die ganze Seite einnehmendes Foto, auf dem ein Offizier einer Menschenansammlung den Kriegszustand öffentlich bekannt machte. Kriegszustand! in fetten Lettern darunter.
Noch am Abend des 1. August hatte der Kaiser diesen vom Balkon des Berliner Stadtschlosses proklamiert.
»Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!«, hatte er pathetisch gerufen und unter dem Jubel der Menge versprochen: »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen!«
Vanderborg war in der Brüderstraße durch den Lärm der Massen aufgeschreckt worden und hatte sich ebenfalls zum Schloss begeben.
»Sie sind wahnsinnig geworden«, sagte er noch immer fassungslos. »Helle Kreissägen flogen im Hurrapatriotismus ebenso massenhaft in die Luft wie Zylinder. Sie tun gerade so, als wenn ein Krieg ein Vergnügungsausflug wäre!«
»Was ist mit Friedrich und Amadeus?«
»Mobilmachung, die kommen nicht mehr aus der Garnison raus. Wie es heißt, geht ein Teil der Truppe nach dem Osten und ein anderer, so munkelt man, soll nach Westen gehen und Frankreich im Handstreich erobern. Man verhandelt noch mit Belgien über den freien Durchmarsch.«
»Du meinst, der Kaiser will den Krieg mit Frankreich?«
»Man sagt, der Franzmann wolle ihn mit uns, man müsse sich da rasch zur Wehr setzen, ihm zuvorkommen undEinhalt gebieten, bevor er den Krieg ins Reichsgebiet einschleppt …«
Ich sprang auf.
»Ich muss zu Amadeus und auch Friedrich muss ich noch einmal sehen.«
»Dann pack ein paar Sachen und komm mit zu mir in die Brüderstraße, mein Kutscher wartet noch im Hof. Hier sind wir ja von aller Information abgeschnitten.«
Ich warf wahllos einige Kleidungsstücke in einen Koffer, gab Amanda, die gar nicht begriff, was vor sich ging, in Käthes Obhut und reiste mit Vanderborg auf schnellstem Wege nach Berlin. Tags darauf erfolgte die Kriegserklärung an Frankreich und noch am selben Tag marschierte Friedrich mit seiner Einheit am Schloss vorbei, um in den Krieg gegen Frankreich zu ziehen und im Westen die Grenzen des Deutschen Reiches gegen den heranstürmenden Franzmann zu verteidigen, was freilich eine reine Lüge und Kriegspropaganda war. Aber wen kümmerte das. Der Krieg hatte alle gepackt, er war wie ein Rausch, in dem sich wildfremde Menschen in den Armen lagen, sich zujubelten und einander versicherten, dass es nichts Schöneres im Leben eines jungen Mannes geben könne, als für Volk und Vaterland auf dem Feld der Ehre sein Leben zu geben! Ganze Schulklassen und Abiturientenjahrgänge krochen der Propaganda und der Kriegseuphorie auf den Leim und meldeten sich freiwillig und alle träumten vom Sieg in Stahlgewittern.
Ich träumte von blutbetauten Äckern und blutroten Rosen auf Soldatengräbern. Im Neuen Club , in den ich mich abends flüchtete in der Hoffnung, dort ein paar interne Informationen zu erhalten, sprachen sie von einer ungeheuren Hoffnung, der Befreiung von den altenKonventionen und dem neuen Zeitalter, das herrlich aus dem Geschützdonner, wie nach einem reinigenden Gewitter, aufstehen würde. So konnte nur jemand reden, der nie einen Krieg erlebt hatte. Keiner von ihnen war vierhundert Jahre über Europas Schlachtfelder gezogen und hatte wie ich den Sensenmann als
Weitere Kostenlose Bücher