Die Dunkle Erinnerung
gelernt hätten …«
Er fiel ihr ins Wort. »Das ist doch nur eine Ausrede, Erin. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort – dann hättest du eine andere Ausrede gefunden.«
Erin wusste, dass er Recht hatte: Es war eine Ausrede. Ihr Widerstreben beruhte nicht nur darauf, dass sie alles vergessen wollte. Sich in Alec zu verlieben hätte bedeutet, einen weiteren Menschen in ihr Leben hineinzulassen – und dieses Wagnis scheute sie. Sie hatte genug damit zu tun, Claire und Janie zu beschützen.
»Ich gebe dir Zeit …« Alec warf einen Blick zur Treppe, schaute dann wieder Erin an. »Aber ich gehe nicht fort. Zwischen uns ist es noch nicht zu Ende.« Er beugte sich vor und gab ihr einen raschen Kuss. »Es hat ja noch nicht mal angefangen.«
Dann ging er.
Doch sie wusste, er würde wiederkommen. Die Frage war nur – wie würde sie dann reagieren?
Am Freitag schien die Kommission in Langley endlich zufrieden. Erin wurde nach Hause entlassen. Sie freute sich auf ein langes, ungestörtes Wochenende mit Janie und Claire.
Wie schön es war, nach Hause zu kommen, eine Wohnung zu betreten, in der es nach dem Essen roch, das hier vor Stunden gekocht worden war. Alles war sauber und aufgeräumt, doch der Raum bewahrte eine Wärme wie das Echo eines Kinderlachens. Marta und Janie – und seit neuestem Claire – hatten diese Wärme in Erins Leben gebracht, das Gefühl der Zugehörigkeit, das sie nie gekannt hatte, nicht einmal bei ihrer Mutter.
Erin machte die Tür zu und schloss ab.
Im Haus war es ruhig, nur aus dem Wohnzimmer drangen die gedämpften Geräusche des Fernsehers.
Wie vermutet fand Erin Marta schlafend in ihrem Lieblingssessel, während im Fernseher ein Late-Night-Talker mit irgendeinem Möchtegernfilmsternchen plauderte. Erin schaltete das Gerät aus und hockte sich neben den Sessel.
»Marta?«
Die ältere Frau regte sich im Schlaf, schlug langsam die Augen auf und lächelte Erin an. »Da bist du ja!«
»Und du schläfst wieder in deinem Sessel.«
»Hab nur ein bisschen die Augen ausgeruht.«
»Ja, ja. Wie wär's, wenn ich dich nach oben bringe. Dann kannst du deine Augen im Bett ausruhen. Sonst hast du morgen Früh ganz steife Glieder.«
»Stimmt, aber ich brauche keine Hilfe.« Marta zog am Hebel, der die Fußstütze absenkte, ließ sich dann aber doch von Erin aufhelfen. Marta seufzte. »Alt zu werden ist kein Spaß.«
Erin lächelte und küsste sie auf die Wange. »Bis morgen.«
»Gute Nacht, mein Liebes.«
Erin sah Marta nach, die langsam zur Treppe ging. Dann drehte die ältere Frau sich noch einmal um. »Ich habe Lasagne gemacht. Im Ofen steht ein Teller für dich.«
»Danke.« Erin lächelte. Marta vergaß nie, ihre Küken zu versorgen.
»Und Janie hat dir ein Bild hingelegt. Auf dem Küchentisch. Ein richtig gutes Bild.«
»Ja?«
»Ja. Heute hatten sie was Besonderes in der Schule. Einen Zauberer.«
Erin erstarrte. »Ein Zauberer?«
»Ja, und Janie hat ihn gemalt.«
Marta machte sich auf den Weg nach oben, während Erin zitternd dastand. Das heftige Pochen ihres Herzens war der einzige Laut in dem stillen Haus.
Dann fiel die Starre von ihr ab, und sie stürmte in die Küche.
Wie Marta gesagt hatte, lag Janies Zeichenblock aufgeschlagen auf dem Tisch. Und zuoberst war das Bild, von dem Marta gesprochen hatte: ein Mann mittleren Alters, der ein Kaninchen aus einem Hut gezaubert hatte.
Erin zitterten die Hände. Das Gesicht war ihr fremd, doch selbst auf diesem Kinderbild erkannte sie ihn. An seinen Händen.
Sie alle mussten aus dem Haus.
Sofort.
Erin ließ den Zeichenblock fallen und wandte sich zur Treppe. Und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle des Wohnzimmers stehen. Da stand er – keine drei Meter entfernt, auf der anderen Seite der Couch.
»Hallo, Erin.« Sie hätte diese Stimme überall wiedererkannt. »Überrascht, mich zu sehen?« Er hielt ein langes Messer in der Hand, an dessen Spitze frisches Blut glänzte.
Erin kämpfte gegen die Panik, die sie zu überwältigen drohte.
Der Magician hob das Messer und grinste. »Oh Gott, von wem ist denn dieses Blut? Von der alten Frau? Von deiner Schwester? Oder von der süßen Kleinen …?«
Erin zischte: »Wenn du ihnen auch nur ein Haar gekrümmt hast …«
»Ja? Was dann?«
Verzweifelt kämpfte Erin ihre Angst nieder. Sie musste diese Angst besiegen, sonst war sie ihr Untergang. Und der Untergang derer, die sie liebte. »Damit kommst du nie davon.«
»Und warum nicht? Ich bin noch jedes Mal
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