Die Dunkle Erinnerung
sagte sie kess zur Empfangsdame und ging nach hinten durch. Platzte in die Küche, als hätte sie jedes Recht dazu, fand die Hintertür und schlüpfte hinaus.
Wieder wechselte Erin die Schuhe, machte sich auf den Weg zurück zur Connecticut Avenue und weiter Richtung Dupont Circle, dankbar für die flachen Treter, in denen es sich leichter lief. Für den nächsten Schachzug würden sie ihr allerdings kaum nützen, denn sie musste sich in einen der Nachtschwärmer verwandeln, die in dieser Gegend die Clubs unsicher machten. Somit waren die Hochhackigen wieder an der Reihe.
Es gab unzählige Clubs in der Gegend. Erins erste Wahl war der Club Five, ein lautes, überfülltes Etablissement, doch für ihre Zwecke bestens geeignet. Leider hatte er montags geschlossen, einige andere Clubs in der Nähe ebenfalls. Erin musste ihr Glück woanders versuchen.
Schließlich ging sie ins MCCXXIII, das allgemein ›Twelve Twenty-three‹ genannt wurde, ein In-Lokal auf der Connecticut Avenue mit ultratrendigem Publikum. In ihrem eleganten Kleid kam Erin mühelos hinein. Nun konnte sie nur hoffen, dass die Gäste weder zu arrogant noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um einer Frau in Not zu helfen.
Erin erklomm einen Barhocker und suchte in der Menge nach einer geeigneten Frau, die ungefähr ihre Größe und Hautfarbe hatte, aber nicht ganz in diese Glitzergesellschaft passte. Eine Frau, die versuchte, modisch mitzuhalten, sich aber nur nachgemachte Designerklamotten leisten konnte. Größe und Hautfarbe waren objektive Kriterien, die Frage der Mode jedoch bloße Vermutung. Wenn Erin die falsche Frau ansprach, würde die Sache nicht funktionieren, und sie musste in einen anderen Club.
Zwei Frauen schienen passende Kandidatinnen zu sein. Beide waren mit einer Gruppe da, in der ausgiebig getrunken und getanzt wurde. Erin musste nur lange genug warten, bis eine der beiden Frauen auf die Toilette musste. Sie bestellte einen Wein und lächelte den Barkeeper freundlich an, damit er sich an sie erinnerte.
Nach einer Viertelstunde stand eine der Frauen auf und begab sich zur Toilette. Nun war Erins Chance gekommen. Über die Schulter warf sie einen Blick zum Eingang, zahlte ihren Drink und folgte der Frau.
Im Waschraum legte sie ihren Mantel auf die Couch, erneuerte ihr Make-up und achtete darauf, dass ihre Hände sichtbar zitterten. Als die andere Frau von der Toilette kam, ordnete Erin gerade ihre Kleidung und schaute sich nervös um.
»Schickes Kleid«, meinte die Frau und musterte die perlenbestickte schwarze Seide.
»Danke. War ein Geschenk.«
»Super Geschenk.« Die Frau nahm ihren Lippenstift und zog sich die Lippen nach. »Welches Label?«
Wie gut, dass die Partysüchtigen in D.C. so scharf darauf waren, Modemarken zu erkennen. »Versace.«
Fast konnte sie die Gedanken der Frau hören: War das Kleid original? »Sie haben sich einen spendablen Sugar Daddy geangelt, was?«
Erin zuckte die Achseln, während sie in ihrer Tasche wühlte. »Verdammt, ich hab meine Zigaretten an der Bar vergessen.« Sie wandte sich an die andere Frau. »Ich frage ja nicht gern, aber rauchen Sie? Ich könnte jetzt wirklich eine Zigarette gebrauchen.«
»Klar.« Die Frau zog ein Päckchen aus der Tasche und bot Erin eine an.
Mit zitternden Händen bediente sie sich, versuchte, die Zigarette anzuzünden, schaffte es aber nicht. »Verflixt«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Hier.« Die Frau nahm ihr das Feuerzeug ab und zündete die Zigarette an. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Erin nahm einen tiefen Zug an der Zigarette, ließ den Rauch langsam entweichen und zwang Tränen in ihre Augen. »Ehrlich gesagt, nicht besonders.« Sie wandte sich ab und ging in den Ruheraum, wo sie sich die Augen rieb.
Die Frau folgte ihr. »Was ist denn? Kann ich Ihnen helfen?«
»Danke, aber ich glaube nicht.«
»Vielleicht ja doch.«
Erin zögerte. Es sollte aussehen, als müsse sie sich zwingen, ihre Geschichte zu erzählen. »Mein Freund … Exfreund … ist gerade aufgetaucht. Ich glaube zwar nicht, dass er mich gesehen hat, aber wenn doch …« Mit zitternder Hand führte sie die Zigarette an die Lippen.
»Was? Und Sie sind mit 'nem anderen unterwegs?« Die Frau zuckte die Achseln. »Er wird es überleben. Sie werden's beide überleben.«
»Nein, nein, so einfach ist das nicht. Ich bin allein hier.« Erin ließ sich auf die Couch sinken. »Wir haben erst vor kurzem Schluss gemacht, und er … na ja, er hat's in den falschen Hals
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