Die dunkle Göttin
Kaeritha bemerkte keinerlei Anzeichen von Unbehagen oder Reserviertheit.
»Die jetzige Stimme ist jünger als ihre Vorgängerin«, begann die Domina schließlich. »Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich sogar, sie wäre vielleicht ein wenig zu jung für ein solches Amt. Aber ich habe mich geirrt. Sie hat es bereits eine Weile inne und ich habe erlebt, wie sie es ausübt. Ehrlich gesagt glaube ich fast, sie sieht jünger aus, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Warum glaubt Ihr das?«
»Sie ist eine außerordentlich attraktive Frau, Dame Kaeritha. Sie hat ein Gesicht, das jung bleibt, mindestens bis sie achtzig ist.« Die Domina lächelte. »Als ich selbst jünger war, hätte ich bereitwillig zwei oder drei Finger meiner Linken für ihren zarten Knochenbau und ihren Teint gegeben. Jetzt beneide ich sie nur noch darum.«
»Ah.« Kaeritha erwiderte das Lächeln. »So eine ist sie also.«
»Ganz ohne Zweifel so eine«, stimmte ihr Yalith zu, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Sie scheint sich dessen aber nicht bewusst zu sein«, fuhr sie ernster fort. »Manchmal frage ich mich, ob ihr Aussehen vielleicht ihre Berufung erschwert hat. Dennoch wird einem ihre Bestimmung ganz deutlich, wenn man einige Minuten in ihrer Gegenwart verbracht hat. Sie besitzt eine
Ausstrahlung, die ich noch bei keiner anderen Stimme erlebt habe. Ihr werdet sicher verstehen, warum die Kirche sie nach Quaysar berufen hat, sobald Ihr Der Stimme gegenübertretet.«
»Gewiss«, antwortete Kaeritha. »Trotzdem befähigt eine spirituelle Berufung eine Person nicht ohne weiteres, auch die eher weltlichen Angelegenheiten eines Tempels wirksam regeln zu können. Ich kann mir vorstellen, dass dies für eine Hohepriesterin, die gleichzeitig Bürgermeisterin ist, noch viel mehr gilt. Wie schätzt Ihr die Fähigkeiten Der Stimme in diesem Punkt ein?«
»Ich bin erst einmal in Quaysar gewesen, seit sie dort Stimme wurde«, erwiderte Yalith. »Zwar hat sie uns seitdem viermal hier besucht, aber die Verbindung zu ihr wurde meistens über ihre Dienerinnen geschlossen. Mein Eindruck von ihren Fähigkeiten als Domina einer Stadt beruht also hauptsächlich auf dem Hörensagen.«
Sie wartete, bis Kaeritha mit einem Nicken bestätigte, dass sie diese Einschränkung verstanden hatte.
»Dennoch würde ich sagen«, fuhr die Domina dann fort, »dass sie mindestens so tüchtig ist wie ihre Vorgängerin. Und das ist ein hohes Lob. Ich habe jedenfalls noch von keinen
Schwierigkeiten gehört. Und auf Grund meiner eigenen Erfahrungen kann ich nicht gerade behaupten, dass ich nur wegen ihrer Differenzen mit Trisu daran zweifeln würde, dass sie auch Schwierigkeiten hätte, mit einem weniger voreingenommenen Lord auszukommen.«
»Verstehe.« Kaeritha dachte darüber nach und neigte dann den Kopf. »Angesichts Eures geringen direkten Umgangs mit ihr kann ich wohl kaum eine genauere Beschreibung von Euch erwarten. Kanntet Ihr ihre Vorgängerin im Amt besser?«
»Aber ja!« Yalith lächelte. Es war ein strahlendes, herzliches Lächeln, obwohl es eine Spur Melancholie enthielt. »Die frühere Stimme stammte aus Kalatha. Sie wurde sogar hier geboren, und ich kannte sie schon lange, bevor sie Lillinaras Ruf empfing. Wir sind zusammen aufgewachsen!«
»Tatsächlich? Ich habe erwartet, dass sie älter gewesen sein müsste.«
»Alt? Shandra?« Yalith verzog das Gesicht. »Ich sollte sie nicht so nennen. Die Stimmen geben ihren alten Namen auf und nehmen einen neuen an, wenn sie ihr Amt antreten. Sie war jedenfalls ein Jahr jünger als ich, und wenn ich an sie denke, sehe ich immer noch den kleinen Blondschopf vor mir, der sich an meinen Rockzipfel klammerte, wenn ich im Fluss fischen ging.«
»Also war sie sogar jünger als Ihr.« Kaeritha dachte nach. »So wie Ihr über sie sprecht, scheint sie eine außergewöhnliche Person gewesen zu sein.«
»Das war sie«, bestätigte Yalith leise.
»Wie ist sie gestorben? Ich dachte, sie wäre älter als Ihr, und hatte angenommen, sie wäre an Altersschwäche oder vielleicht einer Krankheit gestorben. Aber wenn sie jünger war
«
»Das weiß niemand so genau.« Yalith seufzte. »Es war eine Krankheit, sicher, aber sie kam außerordentlich plötzlich, was ihre Ärzte und sie überrascht hat, weil sie sonst immer so gesund gewesen war. Sie meinte früher einmal scherzhaft, sie hätte die Konstitution eines Windrenners.« Traurig schüttelte sie
den Kopf. »Aber selbst das reichte diesmal nicht. Sie wurde krank und ist kaum
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