Die dunkle Schwester
– sie hätten alle längst fort sein müssen.
»Ich weiß es nicht. Aber sie ist nahe. Sehr nahe. Komm, Tania, wir müssen ihr zu Hilfe eilen.« Eden drehte sich um und lief über die Galerie zurück.
Tania folgte ihr. »Was ist mit Edric und Sancha?«, keuchte sie, während sie neben ihrer Schwester herrannte. »Sind die auch noch hier?«
»Ja, in der Tat«, antwortete Eden. »Sancha ist verzweifelt. Edric kämpft um sein Leben.«
Zweimal mussten sie den Rückzug antreten, um den Grauen Rittern zu entgehen. Dann kamen sie zu einer langen Wendeltreppe. Als sie hinunterstiegen, hörte Tania Fußgetrappel näher kommen. Keine Stiefeltritte diesmal, sondern das leise Tappen von weichen Schuhen.
Ein paar Sekunden später tauchte Zara auf dem Treppenabsatz unter ihnen auf und starrte sie verzweifelt an. »Engel der Barmherzigkeit, dass ich euch gefunden habe!«, wisperte sie. »Kommt. Die Zeit drängt.« Sie drehte sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Eden und Tania folgten ihr.
»Sancha und Edric sind in der Bibliothek«, keuchte Zara. »Die Grauen Ritter haben sie überfallen.«
»Warum seid ihr nicht im Wald, wie abgemacht?«, fragte Tania.
»Sancha erholte sich schneller, als wir dachten«, berichtete Zara. »Und sie ließ sich nicht davon abhalten, in die Bibliothek zu gehen, um Vaters Seelenbuch zu holen. Sie ist überzeugt davon, dass darin das Geheimnis seines Aufenthalts verborgen ist.«
»Ja, das ist wahr«, sagte Eden. »Wie konnte ich das nur vergessen? Sancha kann das Seelenbuch lesen, sie hat die Gabe. Und die Lebensgeschichte unseres Vaters wird uns zu ihm führen.«
»Sofern es ihr möglich ist, einen Blick darauf zu werfen«, sagte Zara. »Wir waren kaum dort, als vier von diesen verfluchten Rittern über uns herfielen. Ich stand draußen und hielt Wache, als sie kamen. Die Scheusale hatten Fackeln dabei, wohl um die Bücher anzuzünden. Ich warf mich ihnen entgegen, aber während ich mit einem von ihnen kämpfte, drangen die anderen drei in die Bibliothek ein. Den, der draußen blieb, rang ich nieder, aber die anderen versperrten mir die Tür, sodass ich nicht hineinkonnte. Dann rief Edric heraus, dass ich loslaufen und euch suchen solle.«
»Und wie lange ist das her?«, fragte Tania.
»Nicht lange, und dennoch kann es sein, dass wir zu spät kommen.«
»Sei unbesorgt, Schwester«, sagte Eden. »Sie leben noch. Sonst wüsste ich es.«
Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den Gang, von dem die Bibliothek abging. Die hohen Türen waren geschlossen, aber ein beißender Brandgeruch drang durch die Ritzen. Auf dem Boden lag ein Schwert neben einer tropfenden Fackel und einem zerknitterten Kleiderhäufchen: Stiefel, Brustharnisch und ein weiter Umhang. Das war alles, was von dem Ritter geblieben war, den Zara im Kampf erschlagen hatt e – und eine Handvoll weißer Asche. Die Grauen Ritter von Lyonesse waren keine lebenden Wese n – ihr Körper gehorchte nur dem Willen ihres finstren Meisters, der sie erschaffen hatte. Und wenn ihr Herz durchbohrt wurde, zerfielen sie zu Staub.
Kampfgeräusche drangen durch die Tür und Tania warf sich entschlossen gegen die Holzvertäfelung. Der Aufprall war so stark, dass ihre Schultern erzitterten.
Eden trat vor die Flügeltür, hob die Arme und drückte ihre gespreizten Finger gegen das Holz. Dann senkte sie den Kopf und murmelte leise Beschwörungen. Schließlich trat sie zurück und rief einen einzigen Befehl. Die Tür flog auf, der Holzriegel, mit dem sie versperrt gewesen war, zerbarst in tausend Splitter. Dicker Rauch quoll aus der Bibliothek und schlängelte sich zu der hohen Glaskuppel hinauf. Die umlaufenden Galerien mit den geschnitzten Holzbalustraden und den überquellenden Bücherregalen konnte man im dichten Rauch kaum noch erkennen. Eine ganze Seite der Bibliothek war bereits in Brand gesetzt, gierige gelbe Flammen schossen an den kunstvollen Schnitzereien der Treppenaufgänge hoch und sprangen von einer Galerie zur nächsten über. Halb verkohlte, eingerollte Seiten segelten durch den Rauch herunter und Ascheflocken stiegen in der Hitze auf.
Der Rauch schnürte Tania die Kehle zu, und ihre Augen tränten, als sie sich in den brennenden Raum stürzte. Edric kämpfte gegen zwei Ritter, die ihn an die Wand gedrängt hatten. Einer griff ihn mit dem Schwert an, der andere mit seinem Speer. Als Tania aufschrie, drehte der Schwertkämpfer den Kopf herum, und Edric stieß blitzschnell zu. Ein Aschewölkchen stob in die
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