Die dunkle Schwester
»Er wird sich nicht ohne Weiteres mit Lyonesse verbünden, aber Weir ist weit weg von hier. Vielleicht lässt er seine Truppen lieber dort, um seine eigenen Grenzen zu verteidigen, anstatt eine Abordnung nach Süden zu schicken und uns zu Hilfe zu eilen.«
»Und wird Lord Aldritch es nicht übel aufnehmen, dass unser Vater seinen einzigen Sohn verbannt hat?«, gab Cordelia zu bedenken. »Die Nachricht wird ihn inzwischen gewiss erreicht haben.«
»Die Verbrechen des Verräters Drake waren so groß, dass selbst ein Vater sie nicht entschuldigen könnte«, sagte Eden.
Titania schüttelte den Kopf. »Mag sein, dass er seine Taten nicht entschuldigt, doch wird er zweifellos zu seinem Sohn halten, ganz gleich, was dieser verbrochen hat. Nein, Edric hat Recht: Wir sollten nicht auf Weirs Hilfe zählen.«
Tania schaute die anderen an. »Wie mächtig ist der Hexenkönig eigentlich?«, fragte sie. »Zurzeit hat er nur ein paar Hundert Ritter bei sich. Wenn alle, die ihr erwähnt habt, sich zusammentun und uns helfen, müssten wir ihn doch besiegen können, oder nicht?«
»Oh nein, nur Oberon und Titania besitzen gemeinsam die Macht, den Zauberer zu besiegen«, erklärte Eden. »Der Hexenkönig herrscht über die Element e – Erde, Wasser, Feuer und Luft. Nur die vereinten Kräfte des Sonnenkönigs und der Mondkönigin könnten seine Macht brechen. Und was seine Armee betriff t – zwar stimmt es, dass er gegenwärtig nur einige Hundert Ritter um sich geschart hat, doch wird er längst Verstärkung in Lyonesse angefordert haben. Und dann, glaube mir, Schwester, rückt eine riesige Armada an und wütet im Elfenreich wie die schwarze Pest.«
»Die Streitkräfte des Elfenvolks sind weit verstreut«, fügte Rafe Hawthorne hinzu. »Es wird einige Zeit dauern, unsere Truppen zusammenzuziehen.«
»Und selbst in diesem Fall wäre die Macht des Zauberers vielleicht zu groß, als dass wir sie brechen könnten«, sagte Zara. »Wir haben ja gesehen, wie alles rings um ihn verdorrt und abstirbt.«
»Und doch hat auch seine Macht Grenzen«, ertönte eine Stimme am anderen Ende des Raums und alle fuhren herum. Sancha stand auf dem Treppenabsatz, müde und mitgenommen, aber in ihren Augen lag ein wilder Glanz.
Zara lief zu ihr, um sie zu stützen, aber Sancha schob die Hand ihrer Schwester sanft beiseite. »Ich kann allein gehen«, sagte sie. Mit steifen Bewegungen und schmerzverzerrtem Gesicht trat sie zum Tisch. Der Hausherr bot ihr einen Stuhl an und sie setzte sich seufzend.
»Wie geht es dir?«, fragte Titania mit einem besorgten Blick auf die verbundenen Hände ihrer Tochter. »Hast du noch große Schmerzen?«
»Es ist etwas besser«, antwortete Sancha.
»Ach, wäre doch nur Hopie hier!«, seufzte Cordelia. »Sie könnte deine Leiden lindern.«
Sancha runzelte die Stirn. »Meine Leiden lindern?«, murmelte sie und starrte düster auf ihre Hände. »Ich glaube nicht, dass sie das könnte.« Mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu: »Meine kostbare Bibliothek ist verbrannt. Kann es Entschädigung für einen solchen Verlust geben?«
»Aber wir sind am Leben«, wandte Cordelia ein. »Und solange wir leben, besteht zumindest Hoffnung auf Rache.«
»Tania, zeige Sancha die Seiten aus Oberons Seelenbuch«, bat die Königin.
Tania zog die zusammengefalteten Seiten aus der Tasche und reichte sie ihrer Schwester. Sancha strich das Papier glatt und beugte sich darüber, die leeren Zeilen mit den Fingerspitzen nachfahrend.
»Sonne, Mond und Sterne«, murmelte sie. »Das ist mehr Glück, als ich jemals zu hoffen wagte.« Sie hob den Kopf und sah Tania an. »Die Glücksgeister arbeiten uns in die Händ e – es kann nicht anders sein.«
»Heißt das, dass du es lesen kannst?«, fragte Tania.
»Ja, gewiss«, sagte Sancha. »Hör gut zu, Schwester, und du wirst das Schicksal unseres lieben Vaters erfahren.« Dann begann sie zu lesen und fuhr mit dem Finger die Schrift nach, die nur sie sehen konnte.
»Des Nachts in seinem Schlummer wurde König Oberon von dem Hexenmeister von Lyonesse überwältigt und in eine Kugel aus schwarzem Bernstein gebannt, den unzerstörbarsten aller Kerker. Allein die Schlange von Lyonesse fürchtete, dass Oberons Macht das Gefängnis dennoch zu sprengen vermochte. Aus diesem Grunde wob der Hexenkönig böse Bannflüche um Oberons Gefängnis und formte das Isenmort-Schwert, mit welchem Prinzessin Rathina ihn befreit hatte, nach seinem Willen. Fesseln aus Isenmort schmiedete er daraus und legte sie
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