Die dunkle Schwester
Gedanken. In heller Panik stürzten alle aus dem Dickicht hervor und flohen in den Wald hinein. Tania warf einen Blick zurück, ohne etwas zu sehen, aber sie wusste, dass die Verfolger nicht weit sein konnten.
»Wir sind da!«, rief Cordelia über die Schulter und verschwand in einem dichten Rhododendrongebüsch. Als Tania die Zweige auseinanderbog, blickte sie in ein tiefes grünes Tal hinab, durch das sich ein Wildbach schlängelte. Und dort, im Schutz eines kahlen braunen Felshangs, standen mehrere edle Reitpferde.
Tania schlitterte hinter ihrer Schwester den Abhang hinunter, gefolgt von Zara und Edric, und bald liefen sie über das weiche Gras zu den Pferden. Cordelia war weit voraus und rief den Tieren etwas zu. Sie sprach in fremden, wiehernden Lauten und die Pferde trotteten freudig zu ihr und begrüßten sie mit gesenkten Köpfen.
Plötzlich blieb Tania stehen, drehte sich um und starrte Edric und Zara entsetzt an. »Ich habe das Metall vergessen!«, schrie sie. »Es ist noch im Wald!«
Zara wurde kreideweiß. »Wir können nicht mehr dorthin zurück.«
»Aber wir müssen!«, schrie Tania. »Ich gehe.«
Edric packte sie am Arm. »Nein!«
Tania funkelte ihn an. »Doch!«, schrie sie. »Es ist meine Schuld. Du kannst mich nicht aufhalten!« Aber ehe sie auch nur einen Schritt tun konnte, tauchten zwei Graue Reiter am Rand des Abhangs auf. Ein dritter kam hinzu, dann noch einer und noch einer, und im nächsten Moment wimmelte es auf dem ganzen Hang von untoten Kreaturen.
Eine von ihnen stieß einen lauten Triller aus. Die anderen stimmten ein und zogen ihre Schwerter. Dann gab der erste seinem Pferd die Sporen und stürmte den Abhang hinunter, dicht gefolgt von der restlichen Meute.
Das Isenmort war verloren. Edric packte Tanias Hand und lief mit ihr zu Cordelia, die bei den Pferden wartete. Wenig später saß Tania auf dem Pferderücken. Cordelia sagte etwas zu dem Tier und gab ihm einen sanften Klaps auf die Kruppe.
»Halt dich an der Mähne fest!«, rief sie Tania zu. »Und drück deine Beine an den Bauch!«
Wie in Trance sah Tania die anderen drei auf ihre Pferde springen und schon ging es in wildem Galopp durch das Tal. Hinter ihnen johlten die Grauen Ritter, aber Tania beachtete sie nicht. Mit tränenden Augen kauerte sie über dem Hals des Pferdes, ihre Finger in die flatternde Mähne gekrallt, die Beine eng an die Flanken des Tiers gepresst.
Obwohl sie schreckliche Angst hatte hinunterzustürzen, hielt sie sich irgendwie oben, während das Geschrei der Ritter langsam hinter ihnen verebbte. Nach einer Weile blickte Tania sich vorsichtig um. Cordelia ritt leicht und geschmeidig an ihrer Seite, Edric war dicht hinter ihr und Zara etwas weiter weg.
»Wir sind ihnen entkommen!«, rief Cordelia. »Alles ist gut!«
Tania starrte sie ungläubig an. Wie bitte? Alles ist gut? Der schwarze Bernstein und das Isenmort waren verloren, die Ritter von Lyonesse dicht hinter ihnen. Und selbst wenn sie es schafften, diese Monster endgültig abzuschütteln und nach Ynis Maw zu kommen, wie sollten sie dann Oberon retten? Oberon und das gesamte Elfenreich?
Ynis Maw
X
R iesige Elfensterne traten am Nachthimmel hervor, aber ihr Licht verblasste vor dem unirdischen Glanz der wuchtigen Kristallsäulen, unter denen die Reisenden nach einem langen anstrengenden Tagesritt Schutz gesucht hatten. Tania vergaß ihre schmerzenden Glieder, als sie auf den Ring aus funkelnden Kristallblöcken starrte, die in bizarren, unregelmäßigen Winkeln zum Himmel aufragten. Die Säulen waren fünf bis sechs Meter hoch, gut einen Meter dick, mit spiegelglatten, scharfkantigen Facetten, und das ganze Bauwerk erglühte in einem seltsamen blauweißen Licht, das gespenstische Schatten über den Wiesenhang warf.
Tania hatte vor zwei Stunden den ersten Blick darauf erhascht, ein fernes Aufblitzen von magischem, saphirblauem Licht am roten Abendhimmel, ein Strahlen, als habe jemand eine Handvoll nadelspitzer Edelsteine über eine einsame Hügelkuppe verstreut.
»Crystalheng e – endlich!«, hatte Cordelia gerufen. »Hier werden wir bis morgen Früh rasten.«
Doch als sie dann die Anhöhe hinaufritten und sich zwischen den riesigen Kristallsäulen bewegten, stockte Tania der Atem, so gewaltig war das Monument.
Die Pferde grasten ruhig am Hang. Die Wälder von Esgarth lagen zwei Tagesritte hinter ihnen, und bisher gab es keine Anzeichen, dass sie verfolgt wurden. Der erste Tag auf dem Pferderücken war eine Tortur für Tania gewesen.
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