Die dunkle Seite der Dinge
Fragen bezüglich des
Leichenfundes zu stellen. Der Besuch war eine Herausforderung für
ihn gewesen. Er hatte sich kaum auf die Befragung des jungen Mannes
konzentrieren können. Obwohl dieser ihm immer wieder
versicherte, dass sein Hund keiner Fliege etwas zu Leide tun würde,
hatte der Kommissar sich geweigert, einen Fuß über die
Türschwelle zu setzen. Da konnte Bruno, wie das Ungeheuer hieß,
noch so heftig mit dem Schwanz wedeln.
Zurück im Präsidium war
er mit Neuigkeiten konfrontiert worden, auf die er gerne verzichtet
hätte. In der Wohnung des Journalisten hatte man Blutspuren
sicher gestellt. Die Fingerabdrücke hingegen waren unbrauchbar
gewesen. Als er Franziska mitteilte, dass die Blutproben ihrem Bruder
zugeordnet werden konnten, war sie in sich zusammen gesunken. Mit
jedem Tag, an dem Mike verschwunden blieb, verschwand auch ihr
Strahlen ein bisschen mehr.
Wellinger schielte zu Lennart
hinüber. Sein Sohn stellte ihn auf eine harte Probe, rebellierte
bei jeder sich bietenden Gelegenheit, doch es gab niemanden, den er
mehr liebte.
Für einen Jungen war er fast
zu schön und mehr als einmal hatte Wellinger beobachtet, wie die
Mädchen auf der Straße kicherten und zu tuscheln anfingen,
wenn sie ihn entdeckten. Dann füllte sich sein Vaterherz stets
mit lächerlichem Stolz.
Gerade wieder warf Lennart das
glatte, blonde Haar lässig aus der Stirn. Auf den väterlichen
Rat hin, er könne sich die Haare auch schneiden lassen, hatte
der Junge trotzig reagiert. Das
trägt man heute so, du hast einfach keine Ahnung!
Lennart war Christine wie aus dem
Gesicht geschnitten. Immer noch fühlte Wellinger den Schmerz,
wenn er an seine Ex-Frau dachte, aber das Gefühl war im Laufe
der Jahre dumpfer geworden.
Er hatte sich Hals über Kopf
in sie verliebt. Nach nur sechs Wochen tauschten sie die Ringe. Da
war sie gerade neunzehn, er fünfundzwanzig gewesen.
Enthusiastisch hatte er seiner jungen Frau versprochen, ihr die Welt
zu Füßen zu legen. Gemeinsam waren sie von ihrem Glück
berauscht gewesen, doch das Gefühl verrauchte so schnell, wie es
gekommen war. Christine wurde schwanger. Freudestrahlend hatte
Wellinger sie in die Luft gehoben und sich mit ihr im Kreis gedreht.
Endlich war sein Glück perfekt. Sie würden eine eigene,
kleine Familie sein, aber Christine hatte seine Freude nicht geteilt.
Sie wollte noch keine Kinder, denn sie müsse zuerst ihr Leben
genießen. Außerdem würde e ine Schwangerschaft
ihren makellosen Körper verunstalten. Wütend hatte sie mit der Faust auf den Tisch gehauen.
Sein Entsetzen war
unaussprechlich gewesen, als sie ihm kurz darauf von der Abtreibung
erzählte. Wie ein verwundetes Tier verkroch er sich in eine
Ecke. Nicht Christine, sondern ihm hatte man das Leben aus dem Leib
gekratzt.
Nur wenige Tage später fand
er seine Frau betrunken in der Wohnung auf. Wirres Zeug lallend, war
sie über den Boden gekrochen. Er war ratlos gewesen, bis er die
Schnipsel eines Ultraschallbildes in einem Aschenbecher fand. Freude
und Verzweiflung zerrissen ihn bei ihrem Kampf in seiner Brust. Als
Christine mit den Fäusten gegen ihren Unterleib schlug,
umklammerte er sie, doch sie war ungewöhnlich stark gewesen. In
seiner Not hatte er sie mit Handschellen an das Bett gefesselt. Die
Scham darüber, dies seiner Frau angetan zu haben, war nie mehr
ganz von ihm gewichen.
Am nächsten Morgen war
Christine wie verwandelt. Ihre Wut war einer eisige Kälte
gewichen. Schließlich hatte sie ihm einen hohen Betrag genannt.
Er akzeptierte und kaufte seinen Sohn. Von diesem Moment an stellte
Wellinger sich immer wieder die Frage, wie der Wert eines Menschen
bemessen wurde.
Die Zeit bis zur Geburt erlebte
er wie in Trance. Als endlich die Wehen einsetzten, wurde er aus dem
Kreißsaal hinaus geworfen. Christine wollte es so, damit er sie
nicht in der abstoßenden Haltung der Gebärenden zu sehen
bekäme. Stillschweigend litt er vor dem Entbindungsraum. Nach
einer Ewigkeit hielt er das kleine Bündel Mensch zitternd in
seinen Armen. Vom ersten Moment an war er seinem Sohn verfallen.
Hemmungslos hatte er in der Neugeborenenstation seinen Tränen
freien Lauf gelassen. Das Gefühl, das ihn überschwemmt
hatte, war unbeschreiblich gewesen. Es war neu und es war
einzigartig. Es war die reine Liebe.
Wie nicht anders zu erwarten,
lehnte Christine Lennart ab. Angeekelt verlangte sie von den Ärzten,
sie von einer Milchkuh zu einem Menschen zurückzuverwandeln.
Mit der Geburt des Kindes war
Wellingers
Weitere Kostenlose Bücher