Die dunkle Seite der Dinge
er den Kater vergessen. Er stürmte zur Tür.
„ Wo willst du denn hin? Ich
bin doch noch gar nicht fertig!“
„ Wie jetzt? Warum sagst du
das denn nicht gleich?“
„ Ist ja kaum möglich,
wenn du dich sofort vom Acker machst“, beschwerte sich Hagen.
Schon stand Wellinger wieder bei
ihm und stützte seine Hände auf der Schreibtischplatte ab.
„Schieß los!“
„ Die Frau ist nicht
vergewaltigt worden. Ein Sexualdelikt ist daher sehr
unwahrscheinlich. Dafür habe ich etwas anderes Interessantes
herausgefunden.“ Hagen setzte eine kunstvolle Pause.
„ Sag schon“, fuhr
Wellinger ihn ungeduldig an.
„ Unser Opfer hat vor noch
nicht allzu langer Zeit ein Kind zur Welt gebracht. Möglicherweise
vor zehn Tagen, vielleicht zwei Wochen, länger nicht.“
„ Verdammte Scheiße!“,
fluchte Wellinger und schlug mit der Hand auf den Tisch.
Hagen nickte bekümmert. „Das
kannst du laut sagen. Irgendwo da draußen weint ein einsames
Baby nach seiner Mutter.“
Die Helfer kamen mit dem Zählen
nicht mehr nach. Es war eine Tragödie von gigantischem Ausmaß,
denn die Menschen im Flüchtlingslager starben wie die Fliegen,
vor allem die Kinder.
Das war für Jan das
Schlimmste. Das Sterben der Kinder. Sie waren die eigentlichen Opfer
dieser unfassbaren Tragödie.
Erschöpft rieb er sich das
Gesicht und für einen Moment schloss er die Augen, dann
konzentrierte er sich und schrieb die Gedanken, die in quälten,
in sein abgegriffenes, schwarzes Buch.
'Welch unvorstellbare Last
kann ein einzelner Mensch auf seinen Schultern tragen?
Wie groß darf das Leid
sein, ja, wie schlimm muss die Pein den Menschen quälen, bevor
er unter dieser Last zusammenbricht?
Was unser Verstand nicht zu
denken wagt, ist an diesem Ort bittere Realität geworden.
Schlimmer noch, was wir uns selbst noch nicht einmal in unseren
schrecklichsten Träumen zumuten würden, wird an diesem
Höllenort jeden Tag aufs Neue gerade den Jüngsten angetan.'
Jan hielt inne. Seine Gedanken
wanderten zu dem kleinen Mädchen, das, allein auf sich gestellt,
den erbitterten Kampf verloren hatte. Er hätte diesem Kind eine
Zukunft gewünscht.
'Was wäre jeder Einzelne
von uns bereit zu tun, nicht irgendwann, nicht irgendwo, sondern
jetzt und hier, um dem Leiden der Kinder ein Ende zu setzen?
Ich weiß nicht mehr ein
noch aus. Wenn die einzige Möglichkeit, eine dieser verlorenen
Seelen zu retten, ohnehin nicht stärker ist, als ein Atemzug,
der in der Wüste verbrennt, darf ich es wagen, diesen Atemzug
nicht zu tun, um stattdessen einen neuen Weg zu beschreiten, dessen
Ziel mir unbekannt ist?
Darf ich das Risiko eingehen
und für die vage Hoffnung diese winzige Möglichkeit opfern?
Wie soll ich das entscheiden?
Und wie lange müsste ich
diesen Weg beschreiten? Welcher Zeitraum wäre angemessen und wie
hoch dürfte die Zahl der menschlichen Tragödien sein, bis
ich erkennen könnte, ob ich richtig gehandelt habe?
Welch fürchterliche Qual
würde mich heimsuchen, wenn ich begreifen müsste, dass der
fremde Weg erst recht in einen Abgrund führe?
Ich stehe an der Weggabelung
und suche vergeblich nach Hinweisen, die mir die Richtung zeigen.
Dort draußen gibt es
Männer und Frauen, die eine Antwort gefunden haben, denn sie
sind bereits unterwegs. Sie handeln ohne meine Fürsprache und
ich lasse sie in dem Glauben, ich würde ihr Tun nicht bemerken,
doch ich sehe es sehr wohl und lange darf ich meine Augen nicht mehr
verschließen.
Soll ich mich ihnen in den Weg
stellen oder ihnen auf ebendiesem folgen?
Niemand gibt mir die Antwort
auf diese alles entscheidende Frage. Ich werde auf meinen Verstand
hören müssen, auf mein Gewissen und auf mein Herz.'
Er schloss die Augen.
„ Jan, come!“ Die
drängende Stimme der jungen Krankenschwester Mahima riss ihn aus
seinen Gedanken. Erschrocken sprang er auf und folgte ihrer drallen
Gestalt, die zielstrebig das große Krankenzelt ansteuerte.
Mahima lüftete die Plane und schnell schlüpften beide
hindurch.
An einem Bett blieb sie stehen.
Mit ausgestrecktem Finger wies sie auf ein schmales Lager, in dem ein
etwa siebenjähriger Junge lag. Das Kind war sehr krank und
wahrscheinlich würde es sterben. Alle Pfleger wussten darüber
Bescheid und doch hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, sein
Leiden, so gut es ging, zu lindern.
Aus großen Augen blickte
der Junge ihn an und dann lächelte er. Das Lächeln traf Jan
mitten ins Herz. Das Kind schien zu genesen.
Jan drückte Mahima an sich.
Ihr Gesicht
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