Die dunkle Seite der Dinge
aber
unwahrscheinlich. Gleich zwei Frauen, die innerhalb kürzester
Zeit dem Fluss überantwortet werden? Für mich lässt
das nur einen Schluss zu, nämlich dass das Wasser für den
Täter eine besondere Symbolik besitzt.“
„ Wo sind wir denn jetzt
gelandet? Im Reich der Mythen, Sagen und Märchen?“
„ Ja, so könnte man es
sagen“, erwiderte Neuhaus ruhig. „Haben Sie sich mal die
Frage gestellt, warum Märchen immer die gleiche Struktur
aufweisen und weltweit die gleiche Symbolik verwendet wird?“
„ Was wird das hier? Oles
Märchenstunde?“
„ Warum nicht? Sie haben
doch die Märchen ins Spiel gebracht und wie ich finde, gar nicht
zu unrecht. Symbole im Märchen funktionieren deshalb, weil sie
eine universelle Bedeutung haben. Jedes noch so kleine Kind kann ihre
Aussage verstehen.“
Wider Erwarten zeigte sich
Wellinger an den Ausführungen interessiert.
Neuhaus, der ein
aufmerksamer Beobachter war, entging dies nicht und er nutzte seine
Chance. „Was bringen Sie mit Wasser in Verbindung?“, fragte er.
„ Na ja, es ist Symbol des
Lebens und es hat eine reinigende Wirkung“, sagte Wellinger
nachdenklich, doch dann schüttelte er den Kopf. „Sie
wollen mir aber nicht weismachen, dass wir jemanden suchen, der
versessen auf Märchen ist?“
Neuhaus lachte. „Nein, das
habe ich nicht behauptet. Unser Täter muss kein einziges Märchen
kennen und trotzdem wird er die symbolische Bedeutung von Wasser
verstehen. Eben, weil die Bedeutung universell ist. Symbole haben
auch deshalb eine starke Wirkung, weil sie auf das Leben jedes
Menschen eine Anwendung finden. Im Grunde genommen ticken wir alle
mehr oder weniger gleich. Das gilt auch für den Mann, den wir
suchen. Vielleicht sind Erlebnisse mit Wasser für ihn eine
prägende Kindheitserfahrung. Er könnte in einem Fischerdorf
aufgewachsen sein. Oder eben das genaue Gegenteil ist der Fall.“
„ Das Gegenteil?“
„ Ja. Führen Sie das
Gedankenspiel fort. In unseren Breitengraden sind wir es gewohnt,
Wasser im Überfluss zu haben. Für uns ist sein Besitz eine
Selbstverständlichkeit. Wir schimpfen über einen
verregneten Sommer oder nehmen so etwas Großartiges wie unsere
Flüsse und Seen nicht wirklich zur Kenntnis. Nehmen Sie als
Beispiel Vater Rhein. Das ist doch ein großartiger Fluss.
Trotzdem zeigen wir keinen Respekt und entsorgen sogar skrupellos
unseren Müll in ihm, obwohl ich mit Erleichterung feststelle,
dass es in den letzten Jahren etwas besser geworden ist. Versetzen
Sie sich nun in die Lage des Täters. Stellen Sie sich einen
Menschen vor, für den Wasser einen Seltenheitswert besitzt. Es
ist das Kostbarste, das er sich denken kann. So jemand muss von dem
Überfluss, den wir hier im wahrsten Sinne des Wortes vorfinden,
überwältigt sein. Dieser Mensch wird die symbolische
Bedeutung des Wassers noch höher bewerten, als wir es tun.
Nehmen wir ihr Beispiel, Wasser als Symbol des Lebens. Er legt die
toten Frauen in den Fluss. Aber nicht, weil er sie wie Müll
entsorgen will. Warum tut er das also?“
„ Um seine Taten ungeschehen
zu machen, oder um den Frauen einen Teil dessen zurückzugeben,
was er ihnen genommen hat“, antwortete Wellinger wie aus der
Pistole geschossen.
Neuhaus nickte. „Jetzt
verstehen wir uns. Genau so sehe ich das auch. Den Journalisten hat
er nicht dem Wasser überantwortet, weil dieser zeitlebens genug
von dem nassen Elixier zur Verfügung hatte. Die Frauen hingegen
weisen einen deutlichen Mangel daran auf, wie die Isotopenanalyse
gezeigt hat.“
„ Sie meinen, unser Täter
kommt aus einem Dürregebiet?“
„ Ja, möglich ist es.“
„ Er könnte also, wie
die Frauen, aus einem Gebiet in Afrika stammen. Eine Gegend, in der
es wenig Wasser gibt?“
„ Ja, der Täter fühlt
sich mit den Frauen verbunden. Er lässt sie nicht leiden und
geht auch nach ihrem Tod sorgsam mit ihnen um. Danach vertraut er sie
dem wertvollsten an, dass er kennt.“
„ Es gibt einen Afrikaner,
der mit Franziska Stein Kontakt aufgenommen hat.“
„ Das habe ich in Ihrem
Bericht gelesen. Und ich habe auch gelesen, dass Sie ihn für ein
weiteres mögliches Opfer halten, das sich versteckt hält.
Er wird ein Opfer sein, aber nicht auf die Weise, wie Sie es
vermuten. Ich bin hier, um Sie zu warnen, denn ich bin mir sicher,
das ist Ihr Mann.“
„ Scheiße!“,
fluchte Wellinger.
Neuhaus sah ihn ernst an. „Ich
möchte aufrichtig zu Ihnen sein. Ich sehe, dass Sie eine große
Sympathie für Frau Doktor Stein
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