Die dunkle Seite der Dinge
genoss. Leider war er manchmal sehr
rücksichtslos. Deswegen ist er aber kein schlechter Mensch
gewesen.“ Sie atmete tief durch. „ Schwesterlein ,
hat Mike immer zu mir gesagt. Der
liebe Gott hat sich schon etwas dabei gedacht, dass er uns zusammen
auf diesen Planeten geschickt hat. Für Mike war es das Logischste von der Welt, dass er als
Zwilling geboren wurde. Jemand
muss doch meine Dummheiten ausbügeln. So hat er immer gesagt. Diese Aufgabe ist mir nicht schwer gefallen.
Ich habe die Fehler meines Bruders ohne weiteres akzeptieren können,
denn ich wusste auch um seine Stärken. Von Anfang an haben wir
uns gegen alles und jeden verbündet. Nur gemeinsam bildeten wir
ein Ganzes.“ Traurig blickte Franziska auf den hellen
Eichensarg. „Was ich nicht war, bist du gewesen, was du nicht
werden konntest, versuchte ich zu sein.“ Für einen Moment
schien Franziska orientierungslos und Wellinger dachte, sie müsste
abbrechen, dann fing sie sich wieder. „Nun hat man mir auf
grausamste Weise den besten Bruder genommen, den ich mir vorstellen
kann und so verzweifelt ich auch suchen werde, so weiß ich
doch, dass dieser Teil für immer verloren ist.“
Einige Trauergäste wischten
sich verstohlen über die Augen und nahmen sich in den Arm.
Franziska blickte in die Runde
und fuhr fort. „Wir alle wissen, dass Mike allein und einsam
war, als er starb. Was würde ich dafür geben, wenn ich ihm
in dieser dunklen Stunde zur Seite hätte stehen dürfen, um
ihm Trost zu spenden. Das war uns leider nicht vergönnt und das
Bewusstsein, ihn im Stich gelassen zu haben, quält mich. Doch in
diesem Augenblick wird es mir etwas leichter ums Herz, denn ich sehe,
dass Mike in seinem Tod nicht mehr allein ist. Auf seiner Reise wird
er von den Kameraden begleitet, die das widerspiegeln, wofür er
stand, nämlich für die Hingabe an das Leben.“
Franziska deutete mir ihrem Finger auf die Alexandersittiche, die
immer noch ihr Spektakel im Baum veranstalten. Verblüfft sahen
die Trauergäste sie an, einige runzelten sogar missbilligend die
Stirn, doch sie fuhr fort. „Vermutlich würde jeder von uns
einen anderen Vogel als Begleiter für die letzte Reise wählen.
Ich könnte mir einen Kranich vorstellen, der mit seiner grazilen
Schönheit dem Tod seinen Schrecken nimmt. Oder einen Adler, der
sich mit seinen mächtigen Schwingen über die Macht des
Todes erhebt.“
Einige Trauergäste nickten
nun zustimmend, andere weinten hemmungslos.
„ Ich bin mir sicher, dass
die Wahl meines Bruders auf diese grünen Kameraden hier gefallen
wäre. In ihnen hätte er seine Seelenverwandten erkannt.
Respektlos, grenzüberschreitend und laut, gleichzeitig
humorvoll, herzlich und den Menschen, die er liebte, zugetan. Wann
immer ich die grünen Gesellen in Zukunft durch die Stadt fliegen
sehe, werden sie mich an Mike erinnern. Sie nehmen ihn mit auf ihre
Reise.“
Kapitel 21
Langsam näherte sich das
Taxi dem herrschaftlichen Anwesen. Franziska blickte aus dem Fenster.
Sie sollte nicht hier sein. Zwei Tage waren seit Mikes Beerdigung
vergangen.
Einen Moment war sie versucht,
dem Impuls nachzugeben und wieder umzukehren. Doch die gleiche
Unruhe, die sie auch jetzt aufwühlte, war es gewesen, die sie
aus der Wohnung getrieben hatte. Im Polizeipräsidium war niemand
über die spontane Änderung ihrer Pläne informiert.
Warum auch? Sie benötigte keinen Personenschutz, denn sie würde
nicht lange bleiben.
Das Taxi hielt und Franziska
stieg aus dem Wagen. Hinter ihr fuhren schon die nächsten
Limousinen vor. Ein Hausangestellter deutete eine Verbeugung an und
wies ihr den Weg. Während sie auf das geöffnete
Eingangsportal zuschritt, atmete sie die milde Sommerluft tief in
ihre Lungen. An den Marmorstufen blieb sie unsicher stehen, doch die
dezenten Klänge eines Flügels, auf dem jemand meisterhaft
zu spielen verstand, zogen sie magisch an. Die warmen Töne
vermischten sich mit der lauschigen Sommerluft und entschwanden in
die Nacht.
Man führte sie in eine
eindrucksvolle Empfangshalle, von deren Decke kunstvoll gearbeitete
Kristalllüster ein funkelndes Licht verbreiteten. Den ihr
angebotenen Champagner lehnte sie ab. Stattdessen bat sie um ein Glas
Wasser.
Aufmerksam betrachtete sie die
Gäste, die munter miteinander plauderten und dabei ihre
Aufregung zu verbergen suchten. In einer Ecke stand ein
breitschultriger Boxer, der besitzergreifend seinen Arm um eine
zierliche Frau gelegt hatte. Jeden Augenblick musste die kleine
Person unter dem
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