Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
was passiert war.
»Jonas ist seit gestern
verschwunden«, erklärte Frau Petzold. »Er ist nach der Schule nicht
heimgekommen. Das ist noch nie passiert, bisher war er immer sehr zuverlässig.
Er hat immer Bescheid gegeben, wenn er sich spontan mit einem Klassenkameraden
verabredet hat. Und er hat auch nie bei einem Freund übernachtet, ohne mich
vorher anzurufen.«
»Hat Ihr Sohn eine Freundin?«,
wollte Wünnenberg wissen.
Der Vater schüttelte vehement
den Kopf. »Jonas interessiert sich nicht für Mädchen.«
Wünnenberg sah ihn mit
hochgezogenen Augenbrauen an.
Herr Petzold wurde puterrot. »Es
ist ihm einfach egal. Er hat ganz andere Sachen im Kopf. Mathematik, Chemie,
Biologie.«
Wünnenberg warf Hackenholt einen
verstohlenen Blick zu. Dass sich ein Jugendlicher in Jonas’ Alter mehr für
Mathematik als für Mädchen interessieren sollte, kam ihm spanisch vor.
»Und was ist mit seinen
Freunden?«
»Ich habe gestern bei all
unseren Nachbarn und Freunden angerufen und gefragt, ob sie Jonas gesehen
haben. Sogar bei meinem Schwiegervater im Altenheim habe ich es versucht. In
der Schule konnte ich niemanden mehr erreichen, also habe ich die Liste von der
Klassenfahrt vom letzten Schuljahr herausgesucht. Nachdem sein damaliger Lehrer
nichts wusste, habe ich alle Namen auf der Liste abtelefoniert, einen nach dem
anderen. Aber viele gehen gar nicht mehr mit Jonas in eine Klasse.«
»Ja, und was ist mit den
Freunden von Ihrem Sohn?«
»Die kenne ich nicht«,
schluchzte Frau Petzold. »Er hat immer nur gesagt, dass er zum Lernen noch zu
Dennis oder Philipp geht. Aber er hat sie nie mit nach Hause gebracht. Er fand
das unpassend. Weshalb, weiß ich nicht. Deswegen sind wir heute Morgen ja auch
in die Schule gefahren und haben seine Mitschüler gefragt, ob er gestern mit
einem von ihnen unterwegs war. Wir wollten natürlich auch mit seinen Freunden
sprechen, aber es gibt weder einen Philipp noch einen Dennis in Jonas’ Klasse.«
Hackenholt war bestürzt. Da
saßen nun die Eltern eines siebzehnjährigen vermissten Jungen vor ihm und
behaupteten, keinen einzigen Freund ihres Sohnes zu kennen.
Auch Herrn Petzold schien die
Situation peinlich zu sein. »Jonas war schon immer ein Einzelgänger«,
verteidigte er sein Unwissen. »Er ist lieber mit meinem Vater raus in den Wald
oder in den Schrebergarten gegangen, als sich mit Gleichaltrigen zu treffen
oder vor dem Fernseher zu hocken. Sein Großvater und er haben sich prächtig
verstanden. Auch seit mein Vater im Altersheim lebt, besucht Jonas ihn noch oft.
Manchmal liest er ihm aus seinen Lateinbüchern vor.«
»Und wie ist es mit Jugendlichen
in Ihrer Umgebung? Gibt es da Freunde oder Bekannte?«
»Zu seinen Klassenkameraden aus
der Grundschule hat Jonas schon lange keinen Kontakt mehr. Nach der vierten
Klasse hat sich mein Mann entschieden, Jonas auf ein humanistisches Gymnasium
zu schicken. Die Auswahl ist nicht groß, es kamen nur drei Schulen in Frage.
Das Tucher-Gymnasium schien uns am geeignetsten. Von da an hatte Jonas einen
anderen Schulweg als seine Freunde. Außerdem hat er sich nie für die gleichen
Sachen interessiert wie sie. Jonas gibt jüngeren Schülern Nachhilfe in Latein,
Mathe und Chemie. Er ist absolut sozial und nicht so verschwenderisch, wie man
es von anderen Jugendlichen immer wieder hört. Nehmen Sie zum Beispiel sein
Handy. Wir würden ihm einen ganz normalen Vertrag bezahlen, aber das will er
nicht. Ihm genügt eine Prepaidkarte.«
»Das ist ein gutes Stichwort.
Wir brauchen unbedingt seine Handynummer.«
Der Mann sah seine Frau fragend
an. Auch die wusste Jonas’ Nummer nicht auswendig, hatte sie aber zumindest in
ihrem eigenen Mobiltelefon eingespeichert.
»Hat Jonas das Handy immer bei
sich?«
Sie nickte. »Ich habe es aber
schon tausendmal probiert. Es geht immer sofort die Mailbox an.«
»Hat sich Ihr Sohn in den
letzten Tagen oder Wochen anders verhalten als sonst? War er verschlossener?
Hatte er vor etwas Angst?«
Diesmal schüttelte Frau Petzold
den Kopf. »Er hat bei den Coolridern mitgemacht. Das hat ihm enormes
Selbstvertrauen gegeben.«
Hackenholt sah Wünnenberg
hilfesuchend an, doch der zuckte nur leicht mit den Schultern.
Christian Berger, der die
Ratlosigkeit seiner Kollegen bemerkte, sprang für sie in die Bresche: »Coolrider ist ein von der VAG angebotenes Programm, in dem Schüler zu Fahrzeugbegleitern für Bus und Bahn
ausgebildet werden. Sie sollen potenzielle Streitsituationen frühzeitig
erkennen und
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